In meinem Kopf kreisten
vor der Sitzung alle möglichen Gedanken, insbesondere darüber, dass ich
nicht konzentriert genug sein könnte, um meine Gefühle und Gedanken auf
den Punkt zu bringen und dadurch Dr. Mück vielleicht nicht den richtigen
Ansatz für die Ursache meiner Probleme nennen könnte.
Nach anfänglicher
Anspannung fühlte ich mich aber schon nach wenigen Minuten sehr ruhig und
gelassen. Dr. Mück hatte mich das Gespräch eröffnen lassen und es gefiel
ihm, dass ich als erstes sagte, dass ich angespannt bin.
Ich habe zuerst viel
erzählt von der vergangenen Woche. Meine Angst, in ein Loch zu fallen, hat
sich Gott sei dank nicht bestätigt. Es ging mir zwar nicht unbedingt immer
gut, aber das Abtauchen in dieses Loch, in diese andere Welt blieb mir
erspart. Auch die depressiven Phasen die ich in der vorausgegangenen Woche
hatte, waren seit dem Wochenende verschwunden.
Ich glaube, dass mich die
konsequente Unterbrechung von negativen Gedanken und dem bewussten
positiven Denken vor dem Schlimmsten bewahrt hat.
Wir kamen in der
Therapiestunde auf meine Kindheit zu sprechen. Ich denke, dass viele
Probleme in meiner Kindheit entstanden sind, es ist wohl sehr schwer, die
Ursache herauszufinden, zumal es wohl meist nicht nur eine Ursache alleine
ist. Dr. Mück meinte, dass es sich bei mir aber schon lohnen würde, dort
genauer nachzuforschen.
Dr. Mück erzählte mir
dazu eine
Geschichte von einem kleinen Mädchen.
Dessen Entwicklung wurde über einen sehr langen Zeitraum beobachtet.
Durch eine Krankheit
musste es in den ersten sechs Lebensmonaten beim Füttern auf eine
besondere Weise gehalten werden. Es zeigte sich Jahre später, dass sie
ihre Puppen mit denen sie spielte und auch ihr eigenes Mädchen, das sie
recht früh bekam, auf die gleiche Weise hielt. Noch überraschender stellte
man fest, dass auch die nächste Generation wieder dieses Verhalten zeigte.
Für mich bedeutete das,
dass die Ursachen für meine Probleme vielleicht gar nicht in meinem Leben
selbst entstanden sind, sondern von vorherigen Generationen an mich
weitergegeben wurden. Wenn ich darüber nachdenke, entsteht so ein Gefühl,
dass ich vielleicht gar nicht anders konnte, als mich so zu entwickeln.
Meine Aufgabe für die
Zeit zwischen den Sitzungen war deshalb, mich intensiv mit meinen Eltern
über meine ersten Lebensjahre, über ihr eigenes Leben und auch über das
Leben meiner Großeltern zu unterhalten.
Bei dem Gespräch mit
meiner Eltern wusste ich zuerst gar nicht, wie ich die Sache angehen soll,
was ich fragen soll oder was wichtig für mich sein könnte. Ich war mir
aber ziemlich sicher, dass die Vergangenheit von meinem Vater für mich
interessant sein könnte, weil ich glaube, dass wir uns teilweise sehr
ähnlich sind, dass vor allem unser Schamgefühl sehr ausgeprägt ist.
Ich habe schon immer ein
sehr offenes und liebevolles Verhältnis zu meinen Eltern gehabt. Es ist
mir nicht schwer gefallen, mich ihnen zu öffnen. Ich hatte mit meiner
Mutter vor dem Treffen am Telefon schon über die Sache gesprochen, mein
Vater hat sich deshalb sicherlich im Vorfeld schon Gedanken gemacht. Er
war anders als sonst, strahlte sehr viel Persönlichkeit und Sicherheit
aus, es hat mir gut gefallen. Er war sehr offensiv und ist auf mich
zugegangen, wollte wissen, was mich bedrückt.
Es entwickelte sich ein
Gespräch, bei dem er mir von seinen Erlebnissen als Kind erzählt hat.
Besonders wichtig war für mich die Geschichte, als er nach Kriegsende mit
Mutter, Bruder und Schwester in einer Nacht und Nebelaktion aus dem
jetzigen Oberschlesien in den Westen flüchten musste, nachdem die
russischen Armeen immer näher kamen und sogar eine Granate im eigenen Haus
explodierte. Sie hätten ihre Deutschzugehörigkeit ablegen können und
bleiben können, das kam für meine Oma aber nicht in Frage. Mein Opa war zu
der Zeit in Russland an der Front.
Als mein Vater anfing,
davon zu erzählen, wie sie sich verstecken mussten, wie sie eines Nachts
zum Bahnhof geschickt wurden und wie so viele Menschenmassen sich dort
schon versammelt hatten, platzte es aus mir heraus. Ich konnte meine
Gefühle nicht unterdrücken, ich konnte nichts dagegen tun, dass ich Rotz
und Wasser heulen musste. Es war ein Gefühl, des Mitleids, der
Verzweiflung, der Ohnmacht. Mehrmals kam es dazu, dass ich in Tränen
ausbrach. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich in der Situation eine
so extreme Reaktion zeigte. Meine Eltern reagierten absolut
verständnisvoll, es war gut und es war in dem Moment sehr befreiend.
Das Gespräch hat mir sehr
gut getan. Ich frage mich nur, ob ich in der Situation gerade besonders
empfindsam war oder ob mein Gefühlsausbruch etwas war, das mich schon
länger belastet.
Am nächsten Tag bin ich
auch mit einem ungewöhnlichen Gedanken aufgewacht. Mir kam es wirklich so
vor, als wenn sich mir etwas erschlossen hätte, als wenn ich etwas
gefunden hätte, nach dem ich bislang überhaupt noch nicht gesucht hatte.
Ich habe häufig gespürt, dass ich eine merkwürdige Ungewissheit in mir
trug, mich gefragt habe, wo ich herkomme, auf welchen Ort ich mein Leben
beziehen kann, wo meine Wurzeln sind und ich hatte auch manchmal das
Gefühl, dass ich irgendwo hin zurück muss.
Ich weiß es nicht, ob es
tatsächlich etwas zu bedeuten hatte, vielleicht war es einfach eine
Anspannung die sich entladen hatte. Es ging mir an dem Tag des Gesprächs
mit meinen Eltern nicht so gut, vorher zumindest, und leider konnte ich
auch das gute Gefühl, was ich am Tag danach hatte, nicht behalten, ich
fühlte mich immer mehr bedrückt, hatte Schwierigkeiten, mich zu
konzentrieren, hatte auch zwei oder drei richtige Tiefs, die mir auch
jetzt noch nachlaufen.
Zu Sitzung
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