38-jährige Patientin
(mit posttraumatischer Belastungs-störung nach wiederholten
Missbrauchserlebnissen, Ursprungsdiagnose: "Borderline-Störung")
Ich bin keine Diagnose. Ich bin eine
gesunde Grenzgängerin
ich sitze am
Schreibtisch, sehe aus dem Fenster. Die Sonne scheint und der Himmel ist
strahlend blau. Es ist Hochsommer, doch durch den ausgiebigen Regen
blüht die Natur saftig grün und nicht so vertrocknet wie sonst im
August. Es ist ein beruhigender Anblick, trotzdem bin ich nervös. Warum?
Sie haben mich um diese Niederschrift gebeten und ich habe sehr lange
gezögert, weil mich jeder Satz und die damit verbundenen Gedanken in die
schwerste Zeit meines Lebens zurück versetzen. Und eigentlich wäre ich
schon seit vielen Jahren tot. Tot, wenn der Weg durch den ganz engen
Tunnel geendet hätte oder der Lichtblick am Ende die Lichter eines Zuges
gewesen wären. Aber ich lebe und heute lebe ich gerne und der Weg ist so
breit, dass ich nach vorne, rechts und links sehe und gerade sogar einen
kurzen Blick nach hinten wage. Was war damals anders?
Die Kurzform bis zum
Absturz: Mein Ehrgeiz hatte mich weit gebracht. Objektiv erfolgreich,
beschrieben durch Studium, Job, Karriere, Hochzeit, Hausbau. Seelisch
total verbrannt durch gnadenlose Überforderung und Selbstausbeutung.
Durch den ersten Selbstmordversuch landete ich in der Psychiatrie. Mir
graut es jetzt noch, wenn ich daran denke. Durch meinen Ehrgeiz brachte
ich es dort auch ganz, ganz weit und hatte – bevor ich zu Ihnen kam - 6
Diagnosen. Ich wollte sie zunächst an dieser Stelle aufzählen, aber
heute sage ich „Sch… drauf“. Die umfangreichste und zum Teil schwer zu
ertragende Diagnose war Borderline. Zuvor hatte ich noch davon noch nie
gehört. Grenzgängerin hörte sich cool an und manchmal war ich froh, dass
mein Zustand einen Namen hatte. Es gibt Bücher darüber und eine Vielzahl
von Foren, in der sich Betroffene im Internet darüber austauschen. Es
war ernüchternd, dass die Therapie als schwierig, langwierig,
anstrengend und je nach Autor mit geringen Erfolgsaussichten beschrieben
wurde. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich keinen Plan mehr. Kennen
Sie das Lied „Feel“ von Robbie Williams? Es beginnt mit dem Satz „I want
to contact the living“. Genau so fühlte ich mich. Die Tage waren
anstrengend, denn das Gefühl, es nicht mehr auszuhalten zu können und
sterben zu wollen war allgegenwärtig. Untermalt wurde es ein permanentes
Angstgefühl, welches ich durch Tabletten und sonstige Drogen bekämpfte.
Ich war zerrissen von der Sehnsucht nach Ruhe, die ich im Tod zu finden
glaubte und dem Wunsch, wieder zu „er“leben. In dieser Zeit probierte
ich vielfach mehr oder weniger ernst, mir das Leben zu nehmen. Durch
meine damals vorhandene krankhafte emotionale Instabilität gab ich die
Verantwortung für mein Leben zeitweise ab. Es folgten ambulante und
stationäre Therapien über einen Zeitraum von ca. 18 Monaten, bis ich
mich wieder etwas besser unter Kontrolle hatte und Therapie nur noch in
großen Abständen erfolgte. Die stationären Aufenthalte von insgesamt 8
Monaten (mit Unterbrechungen) kosteten sehr, sehr viel Geld, haben aber
sehr, sehr wenig gebracht. Positiv war, dass ich aus der
Leistungsmaschine erst einmal ausgestiegen war. Vor dem erwähnten ersten
Selbstmordversuch war international bei einem Beratungsunternehmen tätig
und machte in der Freizeit Triathlon, jetzt vereinzelte ich in der
Gartentherapie Honigmelonensalbei, nahm Rosmarinbäder und ging
spazieren. Ich konnte kaum noch etwas leisten, was zusätzlich belastete,
weil ich mich darüber definierte. Das Fatale an meinem damaligen
Verhalten war, dass sich meine Leistung auf meine Krankheit fixierte.
Wenn schon krank und irre, dann aber richtig. Heute kann ich ob mancher
unsinnigen Handlungsweise von damals nur den Kopf schütteln oder
ziemlich lachen. Ich erkenne heute aber auch, dass ich damals einfach
nicht anders konnte. Die Grenzgängerin probierte ständig aus, wie weit
sie gehen kann. Es gab auch Gutes und manche Sätze von Ärzten helfen mir
bis heute. Wenn ich mich damals in Therpiegesprächen nach Normalität
sehnte, erklärte mir der wirklich nette Dr. G. - dem ich nach seinen
Aussagen ziemlich an/auf die Nerven ging - dass ich niemals ein ganz
normales Leben führen würde, dies würde mich unglücklich machen. Das hat
mich ungemein erleichtert. Ich gestatte mir heute manche gesunde
Verrücktheit, die meinem Seelenzustand ungemein gut tut.
Nachdem der absoluten
Tiefphase und den langen stationären Aufenthalten war ich wieder
einigermaßen stabil und näherte mich langsam wieder dem Erwerbsleben.
Dennoch gab es immer wieder teilweise schwer zu ertragenden depressive
Phasen und den Wunsch, sich durch Russisches-Roulette-Handlungen das
Leben zu nehmen. Ohne Details nennen zu wollen nur so viel: Ich
unternahm Handlungen, welche meinen Tod zur Folge hätten haben können.
Dazwischen war ich aber durchaus halbwegs lebensfroh. Zu diesem
Zeitpunkt fanden meine Therapiegespräche vierwöchig bei dem Leiter einer
Klinik statt, denn die Therapeutensuche war schwierig. Warum? Schon
immer hatte ich gewisse Autoritäts- bzw. Respektsprobleme. Dies äußert
sich darin, dass ich meinem Gegenüber deutlich vermittele, wenn ich
ihn/sie nicht für geeignet halte. Im Berufsleben konnte und kann ich das
gut zurückhalten, aber gerade im therapeutischen Umgang hatte ich
gelernt, ehrlich zu sein und vor allem meine Wünsch zu äußern. Dieser
Umstand verbunden mit meinem Studium der Fachliteratur machte mich zu
keiner einfachen Patientin. Nur am Rand erwähnt: Gewohnt in
Beratungsprojekten rational vorzugehen, stellte ich zu Beginn meiner
„Therapiekarriere“ erst einmal die Existenz der Seele in Frage und
deckte manches Therapeutenverhalten als aus meiner Sicht nicht sinnvoll
auf. Ich dachte dies nicht nur, ich sagte es. Geholfen hat mir dieses
Verhalten wohl eher nicht und es macht klar, dass ich eine schwierige
Patientin war.
Mein damaliger
Therapeut kam damit klar, aber weiter kam ich auch nicht. Ich hatte also
einen mehr oder weniger stabilen Zustand und funktionierte
einigermaßen. Aber das reichte mir nicht, denn ich war unsicher, traute
mir wenig zu und hatte vor allem Angst, überhaupt noch etwas zu planen.
Ausgerüstet mit der Diagnose Borderline und noch vielen anderen machte
ich mich auf die Suche nach Spezialisten. Als Privatpatientin bekommt
man schnell einen Ersttermin, allerdings sollten die Therapien erst
einmal stationär erfolgen, was mich abschreckte. Ich befürchtete, dass
ich auf der Suche nach Aufmerksamkeit wieder kränker werden würde als
bisher. Aktuell weiß nicht mehr, welchem Umstand ich es zu verdanken
habe, dass ich irgendwann auf Ihrer Seite gelandet bin. Die
Patientenberichte faszinierten mich und ich schöpfte Hoffnung für mich,
etwas bessern zu können. Aber ich hatte Bedenken, dass Sie meine vielen
Diagnosen abschrecken würden und eine Behandlung nicht in Betracht käme.
Ich hatte Angst vor einer Ablehnung, aber irgendwann traute ich mich. Zu
meinem Glück lehnten Sie nicht ab. Die Therapie lief viele, viele
Monate, die nicht immer so leicht auszuhalten waren. Es gab Situationen
großer Eigengefährdung, in der ich nach objektiven Maßstäben eigentlich
hätte stationär behandelt werden müssen. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie
das mit mir ausgehalten haben und ich meinen Weg mit Ihrer Unterstützung
gefunden habe, gegangen bin und heute wieder mit Lebensfreude gehe.
Bislang erhielt ich meine Behandlungsberichte nur über Umwege, Sie
baten sogar um Mitarbeit.
Heute habe ich nur noch
eine Diagnose und fühle mich von der Diagnose Borderline weit entfernt,
auch wenn ich manchmal eine – allerdings gesunde - Grenzgängerin bleibe.
Durch die Therapie kann ich meine impulsiven Handlungen von damals viel
besser verstehen. Da ich mit Therapieerfahrung zu Ihnen kam, hatte ich
klare Vorstellungen davon, was ich anders machen wollte. Dazu gehörte
Ehrlichkeit und Offenheit, letztere aber dosiert, weil einiges aus der
Vergangenheit schwer anzusprechen und auszusprechen war. Und endlich
wollte ich meine Intelligenz für mich und nicht gegen mich arbeiten
lassen.
Menschen, die mich
nicht kennen, könnten vielleicht meinen, dass ich zu amerikanischem Lob
neige. Das Gegenteil ist der Fall. Es gab Ärzte und Therapeuten, von
denen ich den einen oder anderen Satz mitgenommen habe, von Ihnen ist es
mindestens eine Geschichte, wenn nicht ein Buch. Was mir geholfen hat
war Ihre vielfältig ausgeprägte Fachkompetenz gepaart mit einem
unglaublichen Maß an Empathie, die ich zuvor nie kennenlernen durfte.
Mein Wesen und meine Handlungsmotive sind mir heute viel klarer. Mir
geht es nicht immer gut, aber ich kann heute damit umgehen und die
schlechten Phasen akzeptieren. Die Kommunikation von meiner Seite war zu
Beginn der Therapie angespannt. Nehme ich meine erste Zieldefinition in
die Hand, bin ich heute ziemlich geschockt, denn sie war davon geprägt,
negative Situation auszuhalten und nicht positive Erlebnisse zu
schaffen. Zeitweise war ich nicht in der Lage, gut mit mir umzugehen,
sondern stand wie ein böser Oberlehrer neben mir und peitschte mich
voran. Danke, dass Sie das so klar aufgedeckt haben. Durch meine
Geschichte habe ich großes Defizit an Aufmerksamkeit. Durch Ihre
Aufmerksamkeit in der Therapie habe ich gelernt, mir diese selbst zu
geben und mir auch selbst Anerkennung zu schenken. Dadurch traue ich
mich heute ziemlich viel und bekomme dadurch auch Bestätigung von außen.
Genau diese Aufmerksamkeit hatte in früheren Therapien gefehlt. Früher
erfuhr ich, dass das Maß an Aufmerksamkeit mit der Heftigkeit der
Erkrankung stieg. Also setzte ich vieles daran, noch kränker zu werden.
Dieses Verhalten behielt ich zeitweise auch bei Ihnen, aber irgendwann
war es gut. Der Topf mit Aufmerksamkeit war endlich gefüllt und es war
gut. Die Tatsache, dass ich so lange für diese Niederschrift gebraucht
habe, spricht ebenfalls für die Therapie. Es gab Zeiten, da konnte ich
mir nicht vorstellen, ohne Ihre Hilfe zu leben. Ich hatte Angst, wieder
zu versagen. Es ist schön, dass Sie mir geholfen haben, dass ich wieder
alleine die Verantwortung für mich tragen kann. Danke, dass Sie mir
geholfen haben, meine Stärken wiederzufinden und neu zu entdecken. Sogar
beruflich bin ich wieder erfolgreich, nur definiere ich mich nicht mehr
nur über diesen Erfolg. Es gibt Tage, in denen ich überdurchschnittlich
viel leiste, dies entspricht meinem Wesen. Aber es folgen - im Gegensatz
zu früher- Zeiten, in denen es ruhiger ist. Meine Emotionen sind auch
nicht stillgelegt und machen mir immer mal wieder einen Strich durch die
Rechnung, aber ich kann damit besser umgehen und deute mich und meine
Umwelt nicht mehr nur negativ. Die emotionale Bandbreite macht mich aus.
Ich kann mich riesig freuen, kenne aber auch die andere Seite.
Es war jetzt doch nicht
so schwer, dies zu schreiben, aber das wusste ich vorher nicht. Früher
dachte ich, dass der Stempel Borderline oder überhaupt psychische
Erkrankung immer an meiner Stirn kleben bleiben würde. Mittlerweile weiß
ich, dass viele Menschen mit mehr oder weniger großen Defiziten durch
die Gegend laufen. Mit ausreichend Abstand zu meiner schwierigen Zeit
bin ich froh um die Erkenntnisse, die ich dadurch gewonnen habe. Diesen
Erkenntnisgewinn wünsche ich allen Menschen, die existenzielle
Grenzerfahrung allerdings nicht.
Falls Patienten dies
lesen sollten, habe ich folgende Anmerkung: Es gibt bestimmt viele
Menschen, die den Weg aus dem Tunnel noch vor sich haben. Es ist ein
anstrengender Weg, er ist nicht immer klar und es geht auch mal zurück.
Und die Tatsache, dass die Emotionen zuerst ins Gehirn schießen, bevor
der Verstand eine Chance zur Reaktion hat, macht es gerade für
Borderliner besonders schwer, positiv für sich zu agieren. Aber bitte
geht den Weg, auch wenn es lange dauert. Und es gibt Menschen, die einen
auf diesem Weg helfen können. Ich will es nicht schönreden, denn es ist
nur eine kleine Hilfe, denn die meiste Arbeit hat der Mensch, der diesen
Weg geht.
Das Leben ist nicht
immer fair, aber es gibt wunderschöne Momente, für die es sich zu leben
lohnt.
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