Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie, Coaching, Mediation u. Prävention
Dr. Dr. med. Herbert Mück (51061 Köln)

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Auf welche Weise können Bewegung und Sport günstige psychische Effekte erzielen?


Mittlerweile gibt es eine Fülle von Hypothesen zu dieser Frage. Die wichtigsten lauten:

1.               Fast jeder Mensch hat die Erfahrung gemacht, dass sich körperliche Erregung (z.B. vor einer Prüfung, vor einem wichtigen Rendezvous oder nach einem heftigen Streit) durch Bewegung abbauen lässt (beispielsweise durch Auf- und Abgehen vor dem Prüfungsraum, Wippen mit dem Bein, „einmal um den Block gehen“). Bewegung scheint sich also auch dazu anzubieten, die mit Ängsten und Depressionen oft verbundenen „Erregungen“ zu verringern.

2.               Angststörungen und Depressionen führen dazu, dass sich die Betroffenen eher weniger als mehr bewegen. Durch ein zu viel an „Schonung“ verliert der Organismus an Fitness. Dies führt dazu, dass schon geringe körperliche Belastungen den Organismus überfordern. Dadurch werden bestehende Symptome (Herzrasen, Schwitzen, Erschöpfung, Müdigkeit) verstärkt. Indem man die Betroffenen dazu motiviert, sich wieder vermehrt zu ertüchtigen, wird nicht nur der Teufelskreis unterbrochen. Die Patienten fühlen sich wieder wohler, schöpfen Hoffnung und sind besser in der Lage, sich möglichen Problemen zu stellen. Wer durch Krafttraining eigenen Kraftzuwachs erlebt und seine Muskeln spürt, hört auf, sich weiterhin „kraftlos“ zu fühlen.

3.               Menschen mit Depressionen, die sich innerlich als „leer“ und „sinnlos“ erleben, kann Bewegung zu einem neuen und „sinnvollen Lebensinhalt“ verhelfen. Menschen, die auf ihre Ängste fixiert sind, kann Bewegung unterstützen, bislang durch Ängste beanspruchte Gehirnkapazitäten besser zu nutzen.

4.               Bei Angstbetroffenen lassen sich Bewegung und Sport häufig auch als „verhaltenstherapeutische Konfrontationsübung“ betrachten. In solchen Fällen sind es nicht dem Sport oder der Bewegung innewohnende Gesundheitsfaktoren, die dem Patienten helfen. Sport und Bewegung stellen unter diesem Gesichtspunkt „Übungsaufgaben“ dar, mit deren Hilfe der Patient lernt, Ängste auszuhalten und damit zu überwinden. Ähnlich können Sport und Bewegung bei Depressionsbetroffenen als Übungsmöglichkeiten betrachtet werden, ein Muster von Antriebslosigkeit und Passivität zu durchbrechen. Sport und Bewegung haben den Vorteil, dass bei ihnen der Sinn solcher Übungen weniger gut in Frage gestellt werden kann, weil sie durchweg als gesunde Verhaltensweisen anerkannt sind.

5.               Die auf William James zurückgehende Frage „Habe ich Angst, weil mein Herz rast, oder rast mein Herz, weil ich Angst habe“ lässt sich bis heute nicht beantworten. Wahrscheinlich macht eine einseitige Entscheidung auch keinen Sinn, weil beide Blickrichtungen gleichermaßen zutreffen können. Dies bedeutet zugleich, dass sich über Veränderungen in Organfunktionen auch seelisches Befinden beeinflussen lässt. Dafür spricht zum Beispiel auch die im Alltag zu machende Beobachtung, dass sich allein durch das Einnehmen einer aufrechten Haltung (statt den Kopf hängen zu lassen) die Befindlichkeit etwas bessern kann. Ähnliches gilt für das Einklemmen eines quer liegenden Bleistiftes zwischen den Zähnen, wodurch sich zwangsläufig die Mundwinkel heben. Auch das Dehnen von Nacken- und Rückenmuskulatur führt oft zu einem kurzen Wohlgefühl. In diesem Zusammenhang sind auch neuere „Botox“-Experimente zu nennen, bei denen die Lähmung eines Stirnmuskels nachweislich dazu führte, dass die Betroffenen negative Emotionen weniger intensiv verspürten. Aus den genannten Phänomenen lässt sich ableiten, dass der menschliche Haltungs- und Bewegungsapparat nicht nur ein „Exekutivorgan“ des Gehirns zur Ausführung von Handlungen ist, sondern auch in die Wahrnehmung und Verarbeitung emotionaler und kognitiver Vorgänge komplex eingebunden erscheint. Unter diesem Gesichtspunkt können Bewegung und Sport dazu führen, dass der Organismus in einen Zustand versetzt wird, der positive Signale an das Gehirn sendet, die mit typischen zu Angst und Depression passenden Signalen nicht vereinbar sind.

6.               Angststörungen und Depressionen gehen sehr oft mit dem besonders stressbehafteten Erleben einher, in einer Falle zu sitzen bzw. keine Lösung zu sehen und daher den Symptomen hilflos ausgeliefert zu sein. In solchen Situationen eröffnet die Möglichkeit, sich durch Bewegung und Sport Erleichterung zu verschaffen, einen Ausweg. Sobald ein Mensch in einer bis dahin ausweglos erscheinenden Situation einen möglichen Ausweg sieht und das Gefühl verspürt, Kontrolle über das Geschehen ausüben zu können, sinkt das Stresserleben und bessern sich die damit verbundenen Symptome (sofern diese nicht schon „chronifiziert“ sind). Das Bewusstsein, über Mittel zur Selbstregulation zu verfügen, verbessert das Selbstvertrauen und wirkt so gesundheitsfördernd.

7.               Besonders bei depressiven Menschen („Depression als Gefühl der Gefühllosigkeit“) kann das körperliche Erleben beim Sport wieder oder auch erstmalig einen Zugang zum Körpergefühl eröffnen. Dafür dürfte es wichtig sein, sich nach dem Sport immer auch eine ausreichende Pause für das „Nachspüren“ zu lassen.

8.               Angstbetroffene können durch sportliche Belastung lernen, dass von ihnen als Krankheitssymptome gewertete Körperreaktionen (schneller Herzschlag, beschleunigte Atmung und Gefühle von Luftnot, Schwitzen, Erschöpfung, „Muskelziehen“) völlig normale, ja gesunde Zeichen sein können. Hierfür ist es erforderlich, dass die Betreffenden sich ausreichend lange pro Trainingseinheit belasten, um zu merken, dass der möglicherweise befürchtete Herzinfarkt oder ein Zusammenbrechen nicht erfolgen, sondern sich bei weiterem Trainieren eher positive Gefühle einstellen. Ein zu früher Trainingsabbruch (Vermeidung), kann dagegen die bestehenden Befürchtungen weiter stärken! Bei einem solchen „Umlerntraining“ sollte man sich möglichst mit hilfreichen Gedanken auseinandersetzen. Denn das Gehirn verbindet alles Gleichzeitige („Konditionierung“).

9.               Auf biologischer Ebene gibt es zahlreiche Vermutungen zu der Frage, wie sich Bewegung und Sport heilsam auf Angststörungen und Depressionen auswirken können. Dabei gilt die Aufmerksamkeit vor allem den im Gehirn zu registrierenden Effekten. Eine der ältesten Beobachtungen betrifft die Feststellung, dass schon bei leichter Bewegung (wie einem Spaziergang) die Hirndurchblutung deutlich ansteigt. Auch können sich unter sportlichem Training im Gehirn offenbar neue Blutgefäße bilden. Auf welche Weise diese Phänomene letztendlich dann auch dazu beitragen können, dass Angststörungen und Depressionen schwinden, ist bis heute unklar.

10.            Experimentell ist belegt, dass Ausdauerbelastungen kognitive Leistungen verbessern, wie insbesondere das Lernen. Da kognitive Störungen (z.B. Konzentrationsstörungen) das Bild von Angststörungen und Depressionen prägen, ist vorstellbar, dass Bewegung durch eine Verbesserung solcher Einzelsymptome das Krankheitsbild unter Teilaspekten günstig beeinflusst.

11.            Noch immer wird bei der Diskussion der Wirkungsmechanismen auch darauf hingewiesen, dass der Körper unter sportlicher Belastung vermehrt Endorphine freisetzt, die zu einem Wohlbefinden führen können. Hier begegnet man jedoch regelmäßig dem Einwand, dass es für diesen Effekt oft längerer und intensiverer körperlicher Belastung bedarf, die bei den meisten Angst- und Depressionsbetroffenen wohl eher selten zu realisieren ist und auch nicht erforderlich erscheint.

12.            Seit längerem vermutet man, dass es vor allem bei Depressionen zu einer Störung im Verhältnis zwischen wichtigen Botenstoffen im Gehirn („Neurotransmittern“) kommt, von denen Serotonin, Noradrenalin und Dopamin die wichtigsten sind. Viele der gängigen Antidepressiva bauen darauf ihr Wirkungskonzept auf. Auch Bewegung kann den Organismus veranlassen, die genannten Botenstoffe vermehrt freizusetzen. Lange Zeit wurde zumindest die öffentliche Diskussion sehr stark von Überlegungen zur Bedeutung der genannten Neurotransmitter im Rahmen der Depressionsentstehung bestimmt (eventuell aufgrund des Marketings pharmazeutischer Firmen). Mittlerweile haben auch andere Aspekte an Gewicht gewonnen (siehe Punk 15).

13.            Bei den meisten Angststörungen und Depressionen ist das körpereigene „Stresssystem“ übermäßig aktiv. Dies führt dazu, dass es zu einem Ungleichgewicht im sog. autonomen Nervensystem kommt, bei dem die Signale des aktivierenden und auf Kampf und Flucht eingestellten Sympathikus über die Signale des beruhigenden und die Regeneration fördernden Parasympathikus dominieren. Dies spiegelt sich beispielsweise in einer verringerten Herzratenvariabilität (HRV) wider. Ausdauersport kann den „Ruhenerven“ (Parasympathikus) stärken und so zu einem gesunden Gleichgewicht im „autonomen Nervensystem“ beitragen. Auch depressive Menschen weisen eine verringerte Herzratenvariabilität auf, die sich unter einer erfolgreichen Therapie ebenfalls bessert.

14.            Die Überaktivität des Stresssystems von Angst- und Depressionsbetroffenen geht häufig auch mit einer dauerhaft (!) vermehrten Freisetzung von Cortisol im Organismus einher. Während der Körper bei einer Bedrohung als Sofortreaktion Noradrenalin aus dem Nebennierenmark freisetzt („kontrollierbar erscheinende Gefahr“), stellt die Ausschüttung von Cortisol gleichsam eine verzögert einsetzende „Nachschubreaktion“ dar (auf eine „unkontrollierbar erscheinende Gefahr“). Ein dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel hat viele ungünstige Folgen (wie etwa den Verlust von Nervenzellen im Hippokampus oder die Abschwächung von Immunreaktionen). Forscher wie Florian Holsboer vertreten die Auffassung, dass ein Zuviel an Cortisol wesentlich zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen beiträgt („Cortisolhypothese der Depression“). Ausdauersport scheint den Cortisolspiegel im Körper senken bzw. Cortisolerhöhungen vorbeugen zu können.

15.            Zu den heute besonders intensiv untersuchten Erklärungsansätzen gehört die Beobachtung, dass der Organismus unter sportlicher Belastung vermehrt sog. Wachstumsfaktoren freisetzt, die insbesondere im Gehirn zur Neubildung von Nervenzellen und einer besseren „Vernetzung“ (Bildung von „Synapsen“) führen können. Im Zentrum der Forschung und des Interesses steht BDNF (Brain Derived Neurotropic Factor), gefolgt von IGF-1 (Insulin-like Growth Factor). Besonders im Hippokampus, der bei Depressionskranken bzw. Stressbetroffenen oft verkleinert ist, kann es durch BDNF zur Nervenneubildung kommen. Da Antidepressiva genau den gleichen Effekt erzielen, vermutet man, dass Bewegung vor allem über die vermehrte Freisetzung von BDNF antidepressiv wirken könnte. Bei depressiven Menschen ist im Blut zu wenig BDNF vorhanden. Sportliche Belastung kann bei ihnen zu einem raschen vorübergehenden Anstieg führen.

16.            Angst und Depression begleiten viele chronische Erkrankungen (oft als deren Folge, mitunter aber auch als deren Vorboten) und tragen so zu dem Gesamtkrankheitsgefühl bei. Genannt seien hier nur die Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, die chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und Rückenleiden. Indem geeignete Bewegungsprogramme das Grundleiden verringern, wirken sie vermutlich indirekt auch abbauend auf die mit dem chronischen Leiden verbundenen Ängste und Depressionen ein.

17.            Erwähnenswert sind auch Befunde, denen zufolge körperlich trainierte Gehirne bei der Auflösung von Aufgaben weniger „Gehirnkapazität“ benötigen als untrainierte (zitiert nach Hollmann et. 2003).

18.            Mehrere Studien zeigen, dass Bewegung die Effekte anderer Maßnahmen verstärken kann (z.B. die Wirkung von Antidepressiva oder auch die Wirkung von Östrogen auf das Gehirn).

19.            Noch etwas exotisch mag die Überlegung klingen, dass vielleicht die durch Sport mögliche „rhythmische Aktivierung“ der beiden Körperhälften und damit auch der Gehirnhälften zu einer besseren Informationsarbeitung in Gehirn und Körper beitragen. Dem Laien sind entsprechende Erfahrungen oft bekannt (mehr Einfälle beim Gehen oder Laufen, klarerer Kopf durch Joggen). Auch bei Naturvölkern werden rhythmische Rituale und Tänze zu Heilungszwecken eingesetzt. Ernstzunehmende Hinweise auf eine verbesserte Informationsverarbeitung im Gehirn kommen auch aus der Traumaforschung, wo mittlerweile über 20 ernst zu nehmende Studien zeigen, dass eine regelmäßig die Körperseite wechselnde sinnliche Stimulation nicht nur die Verarbeitung psychischer Traumata, sondern auch die Stabilisierung positiver Vorstellungen und Entwicklungen begünstigt.      Weiter