Mittlerweile gibt es eine Fülle von Hypothesen zu dieser Frage. Die
wichtigsten lauten:
1.
Fast jeder Mensch hat die
Erfahrung gemacht, dass sich körperliche Erregung (z.B. vor einer
Prüfung, vor einem wichtigen Rendezvous oder nach einem heftigen Streit)
durch Bewegung abbauen lässt (beispielsweise durch Auf- und Abgehen vor
dem Prüfungsraum, Wippen mit dem Bein, „einmal um den Block gehen“).
Bewegung scheint sich also auch dazu anzubieten, die mit Ängsten und
Depressionen oft verbundenen „Erregungen“ zu verringern.
2.
Angststörungen und
Depressionen führen dazu, dass sich die Betroffenen eher weniger als
mehr bewegen. Durch ein zu viel an „Schonung“ verliert der Organismus an
Fitness. Dies führt dazu, dass schon geringe körperliche Belastungen den
Organismus überfordern. Dadurch werden bestehende Symptome (Herzrasen,
Schwitzen, Erschöpfung, Müdigkeit) verstärkt. Indem man die Betroffenen
dazu motiviert, sich wieder vermehrt zu ertüchtigen, wird nicht nur der
Teufelskreis unterbrochen. Die Patienten fühlen sich wieder wohler,
schöpfen Hoffnung und sind besser in der Lage, sich möglichen Problemen
zu stellen. Wer durch Krafttraining eigenen Kraftzuwachs erlebt und
seine Muskeln spürt, hört auf, sich weiterhin „kraftlos“ zu fühlen.
3.
Menschen mit Depressionen, die
sich innerlich als „leer“ und „sinnlos“ erleben, kann Bewegung zu einem
neuen und „sinnvollen Lebensinhalt“ verhelfen. Menschen, die auf ihre
Ängste fixiert sind, kann Bewegung unterstützen, bislang durch Ängste
beanspruchte Gehirnkapazitäten besser zu nutzen.
4.
Bei Angstbetroffenen lassen
sich Bewegung und Sport häufig auch als „verhaltenstherapeutische
Konfrontationsübung“ betrachten. In solchen Fällen sind es nicht dem
Sport oder der Bewegung innewohnende Gesundheitsfaktoren, die dem
Patienten helfen. Sport und Bewegung stellen unter diesem Gesichtspunkt
„Übungsaufgaben“ dar, mit deren Hilfe der Patient lernt, Ängste
auszuhalten und damit zu überwinden. Ähnlich können Sport und Bewegung
bei Depressionsbetroffenen als Übungsmöglichkeiten betrachtet werden,
ein Muster von Antriebslosigkeit und Passivität zu durchbrechen. Sport
und Bewegung haben den Vorteil, dass bei ihnen der Sinn solcher Übungen
weniger gut in Frage gestellt werden kann, weil sie durchweg als gesunde
Verhaltensweisen anerkannt sind.
5.
Die auf William James
zurückgehende Frage „Habe ich Angst, weil mein Herz rast, oder rast mein
Herz, weil ich Angst habe“ lässt sich bis heute nicht beantworten.
Wahrscheinlich macht eine einseitige Entscheidung auch keinen Sinn, weil
beide Blickrichtungen gleichermaßen zutreffen können. Dies bedeutet
zugleich, dass sich über Veränderungen in Organfunktionen auch
seelisches Befinden beeinflussen lässt. Dafür spricht zum Beispiel auch
die im Alltag zu machende Beobachtung, dass sich allein durch das
Einnehmen einer aufrechten Haltung (statt den Kopf hängen zu lassen) die
Befindlichkeit etwas bessern kann. Ähnliches gilt für das Einklemmen
eines quer liegenden Bleistiftes zwischen den Zähnen, wodurch sich
zwangsläufig die Mundwinkel heben. Auch das Dehnen von Nacken- und
Rückenmuskulatur führt oft zu einem kurzen Wohlgefühl. In diesem
Zusammenhang sind auch neuere „Botox“-Experimente zu nennen, bei denen
die Lähmung eines Stirnmuskels nachweislich dazu führte, dass die
Betroffenen negative Emotionen weniger intensiv verspürten. Aus den
genannten Phänomenen lässt sich ableiten, dass der menschliche Haltungs-
und Bewegungsapparat nicht nur ein „Exekutivorgan“ des Gehirns zur
Ausführung von Handlungen ist, sondern auch in die Wahrnehmung und
Verarbeitung emotionaler und kognitiver Vorgänge komplex eingebunden
erscheint. Unter diesem Gesichtspunkt können Bewegung und Sport dazu
führen, dass der Organismus in einen Zustand versetzt wird, der positive
Signale an das Gehirn sendet, die mit typischen zu Angst und Depression
passenden Signalen nicht vereinbar sind.
6.
Angststörungen und
Depressionen gehen sehr oft mit dem besonders stressbehafteten Erleben
einher, in einer Falle zu sitzen bzw. keine Lösung zu sehen und daher
den Symptomen hilflos ausgeliefert zu sein. In solchen Situationen
eröffnet die Möglichkeit, sich durch Bewegung und Sport Erleichterung zu
verschaffen, einen Ausweg. Sobald ein Mensch in einer bis dahin
ausweglos erscheinenden Situation einen möglichen Ausweg sieht und das
Gefühl verspürt, Kontrolle über das Geschehen ausüben zu können, sinkt
das Stresserleben und bessern sich die damit verbundenen Symptome
(sofern diese nicht schon „chronifiziert“ sind). Das Bewusstsein, über
Mittel zur Selbstregulation zu verfügen, verbessert das Selbstvertrauen
und wirkt so gesundheitsfördernd.
7.
Besonders bei depressiven
Menschen („Depression als Gefühl der Gefühllosigkeit“) kann das
körperliche Erleben beim Sport wieder oder auch erstmalig einen Zugang
zum Körpergefühl eröffnen. Dafür dürfte es wichtig sein, sich nach dem
Sport immer auch eine ausreichende Pause für das „Nachspüren“ zu lassen.
8.
Angstbetroffene können durch
sportliche Belastung lernen, dass von ihnen als Krankheitssymptome
gewertete Körperreaktionen (schneller Herzschlag, beschleunigte Atmung
und Gefühle von Luftnot, Schwitzen, Erschöpfung, „Muskelziehen“) völlig
normale, ja gesunde Zeichen sein können. Hierfür ist es erforderlich,
dass die Betreffenden sich ausreichend lange pro Trainingseinheit
belasten, um zu merken, dass der möglicherweise befürchtete Herzinfarkt
oder ein Zusammenbrechen nicht erfolgen, sondern sich bei weiterem
Trainieren eher positive Gefühle einstellen. Ein zu früher
Trainingsabbruch (Vermeidung), kann dagegen die bestehenden
Befürchtungen weiter stärken! Bei einem solchen „Umlerntraining“ sollte
man sich möglichst mit hilfreichen Gedanken auseinandersetzen. Denn das
Gehirn verbindet alles Gleichzeitige („Konditionierung“).
9.
Auf biologischer Ebene gibt es
zahlreiche Vermutungen zu der Frage, wie sich Bewegung und Sport heilsam
auf Angststörungen und Depressionen auswirken können. Dabei gilt die
Aufmerksamkeit vor allem den im Gehirn zu registrierenden Effekten. Eine
der ältesten Beobachtungen betrifft die Feststellung, dass schon bei
leichter Bewegung (wie einem Spaziergang) die Hirndurchblutung deutlich
ansteigt. Auch können sich unter sportlichem Training im Gehirn offenbar
neue Blutgefäße bilden. Auf welche Weise diese Phänomene letztendlich
dann auch dazu beitragen können, dass Angststörungen und Depressionen
schwinden, ist bis heute unklar.
10.
Experimentell ist belegt, dass
Ausdauerbelastungen kognitive Leistungen verbessern, wie insbesondere
das Lernen. Da kognitive Störungen (z.B. Konzentrationsstörungen) das
Bild von Angststörungen und Depressionen prägen, ist vorstellbar, dass
Bewegung durch eine Verbesserung solcher Einzelsymptome das
Krankheitsbild unter Teilaspekten günstig beeinflusst.
11.
Noch immer wird bei der
Diskussion der Wirkungsmechanismen auch darauf hingewiesen, dass der
Körper unter sportlicher Belastung vermehrt Endorphine freisetzt, die zu
einem Wohlbefinden führen können. Hier begegnet man jedoch regelmäßig
dem Einwand, dass es für diesen Effekt oft längerer und intensiverer
körperlicher Belastung bedarf, die bei den meisten Angst- und
Depressionsbetroffenen wohl eher selten zu realisieren ist und auch
nicht erforderlich erscheint.
12.
Seit längerem vermutet man,
dass es vor allem bei Depressionen zu einer Störung im Verhältnis
zwischen wichtigen Botenstoffen im Gehirn („Neurotransmittern“) kommt,
von denen Serotonin, Noradrenalin und Dopamin die wichtigsten sind.
Viele der gängigen Antidepressiva bauen darauf ihr Wirkungskonzept auf.
Auch Bewegung kann den Organismus veranlassen, die genannten Botenstoffe
vermehrt freizusetzen. Lange Zeit wurde zumindest die öffentliche
Diskussion sehr stark von Überlegungen zur Bedeutung der genannten
Neurotransmitter im Rahmen der Depressionsentstehung bestimmt (eventuell
aufgrund des Marketings pharmazeutischer Firmen). Mittlerweile haben
auch andere Aspekte an Gewicht gewonnen (siehe Punk 15).
13.
Bei den meisten Angststörungen
und Depressionen ist das körpereigene „Stresssystem“ übermäßig aktiv.
Dies führt dazu, dass es zu einem Ungleichgewicht im sog. autonomen
Nervensystem kommt, bei dem die Signale des aktivierenden und auf Kampf
und Flucht eingestellten Sympathikus über die Signale des beruhigenden
und die Regeneration fördernden Parasympathikus dominieren. Dies
spiegelt sich beispielsweise in einer verringerten Herzratenvariabilität
(HRV) wider. Ausdauersport kann den „Ruhenerven“ (Parasympathikus)
stärken und so zu einem gesunden Gleichgewicht im „autonomen
Nervensystem“ beitragen. Auch depressive Menschen weisen eine
verringerte Herzratenvariabilität auf, die sich unter einer
erfolgreichen Therapie ebenfalls bessert.
14.
Die Überaktivität des
Stresssystems von Angst- und Depressionsbetroffenen geht häufig auch mit
einer dauerhaft (!) vermehrten Freisetzung von Cortisol im Organismus
einher. Während der Körper bei einer Bedrohung als Sofortreaktion
Noradrenalin aus dem Nebennierenmark freisetzt („kontrollierbar
erscheinende Gefahr“), stellt die Ausschüttung von Cortisol gleichsam
eine verzögert einsetzende „Nachschubreaktion“ dar (auf eine
„unkontrollierbar erscheinende Gefahr“). Ein dauerhaft erhöhter
Cortisolspiegel hat viele ungünstige Folgen (wie etwa den Verlust von
Nervenzellen im Hippokampus oder die Abschwächung von Immunreaktionen).
Forscher wie Florian Holsboer vertreten die Auffassung, dass ein Zuviel
an Cortisol wesentlich zur Entstehung und Aufrechterhaltung von
Depressionen beiträgt („Cortisolhypothese der Depression“).
Ausdauersport scheint den Cortisolspiegel im Körper senken bzw.
Cortisolerhöhungen vorbeugen zu können.
15.
Zu den heute besonders
intensiv untersuchten Erklärungsansätzen gehört die Beobachtung, dass
der Organismus unter sportlicher Belastung vermehrt sog.
Wachstumsfaktoren freisetzt, die insbesondere im Gehirn zur Neubildung
von Nervenzellen und einer besseren „Vernetzung“ (Bildung von
„Synapsen“) führen können. Im Zentrum der Forschung und des Interesses
steht BDNF (Brain Derived Neurotropic Factor), gefolgt von IGF-1 (Insulin-like
Growth Factor). Besonders im Hippokampus, der bei Depressionskranken
bzw. Stressbetroffenen oft verkleinert ist, kann es durch BDNF zur
Nervenneubildung kommen. Da Antidepressiva genau den gleichen Effekt
erzielen, vermutet man, dass Bewegung vor allem über die vermehrte
Freisetzung von BDNF antidepressiv wirken könnte. Bei depressiven
Menschen ist im Blut zu wenig BDNF vorhanden. Sportliche Belastung kann
bei ihnen zu einem raschen vorübergehenden Anstieg führen.
16.
Angst und Depression begleiten
viele chronische Erkrankungen (oft als deren Folge, mitunter aber auch
als deren Vorboten) und tragen so zu dem Gesamtkrankheitsgefühl bei.
Genannt seien hier nur die Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, die
chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und Rückenleiden. Indem
geeignete Bewegungsprogramme das Grundleiden verringern, wirken sie
vermutlich indirekt auch abbauend auf die mit dem chronischen Leiden
verbundenen Ängste und Depressionen ein.
17.
Erwähnenswert sind auch
Befunde, denen zufolge körperlich trainierte Gehirne bei der Auflösung
von Aufgaben weniger „Gehirnkapazität“ benötigen als untrainierte
(zitiert nach Hollmann et. 2003).
18.
Mehrere Studien zeigen, dass
Bewegung die Effekte anderer Maßnahmen verstärken kann (z.B. die Wirkung
von Antidepressiva oder auch die Wirkung von Östrogen auf das Gehirn).
19.
Noch etwas exotisch mag die
Überlegung klingen, dass vielleicht die durch Sport mögliche
„rhythmische Aktivierung“ der beiden Körperhälften und damit auch der
Gehirnhälften zu einer besseren Informationsarbeitung in Gehirn und
Körper beitragen. Dem Laien sind entsprechende Erfahrungen oft bekannt
(mehr Einfälle beim Gehen oder Laufen, klarerer Kopf durch Joggen). Auch
bei Naturvölkern werden rhythmische Rituale und Tänze zu Heilungszwecken
eingesetzt. Ernstzunehmende Hinweise auf eine verbesserte
Informationsverarbeitung im Gehirn kommen auch aus der Traumaforschung,
wo mittlerweile über 20 ernst zu nehmende Studien zeigen, dass eine
regelmäßig die Körperseite wechselnde sinnliche Stimulation nicht nur
die Verarbeitung psychischer Traumata, sondern auch die Stabilisierung
positiver Vorstellungen und Entwicklungen begünstigt.
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