Anders als bei den Angststörungen gibt es
neuerdings zur Frage, ob man Bewegung bei Depressionen einsetzen soll,
bereits mehrere offizielle Empfehlungen. So heißt es in der im Dezember
2009 veröffentlichen S3-Leitlinie / Nationale Versorgungsleitlinie zur
Unipolaren Depression „Körperliches Training kann aus klinischer
Erfahrung heraus empfohlen werden, um das Wohlbefinden zu steigern und
depressive Symptome zu lindern.“( S. 143) Diese Empfehlung hat den
Rang eines KKP (= Klinischen Konsenspunktes). Ähnlich
heißt es in den im Oktober 2010 von der American Psychiatric Association
(APA) veröffentlichten Practice Guidelines for the Treatment of Patients
with Major Depressive Disorder (Third Edition): „Data generally
support at least a modest improvement in mood symptoms for patients with
major depressive disorder who engage in aerobic exercise or resistance
training. Regular exercise may also reduce the prevalence of depressive
symptoms in the general population, with specific benefit found in older
adults and individuals with co-occuring medical problems.“
(S. 27). Die von der APA angesprochene Datenlage wurde ebenfalls 2010
von der Cochrane Collaboration analysiert, wobei sich die
Wissenschaftler auf ein Ausgangsmaterial von mittlerweile schon 144
einschlägigen Veröffentlichungen stützen konnten. Ausreichenden
wissenschaftlichen Kriterien entsprachen davon 23 Untersuchungen (mit
903 Teilnehmern). Fasst man diese zusammen, errechnet sich eine
deutliche klinische Wirkung des Sporttreibens (SMD = -0.82) auf
Depressionen. Beschränkt man sich allerdings auf die verbleibenden 3
wissenschaftlich hoch anspruchsvollen Studien (216 Teilnehmer) findet
sich nur noch ein mäßiger Effekt (SMD = -0.42). Weitere Teilauswertungen
der Cochrane Collaboration ergaben: 1. Sport wirkt bei Depressionen
vergleichbar gut wie kognitive Verhaltenstherapie (6 Studien, 152
Teilnehmer). 2. Sport wirkt vergleichbar wie Antidepressiva (2 Studien,
201 Teilnehmer). 3. Der Effekt aeroben Sporttreibens auf Depressionen
ist mäßig, aber wahrscheinlicher. Der Effekt von Krafttraining auf
Depressionen erscheint stark, dafür aber weniger gesichert. 4. Vier von
acht Studien sprechen für einen Zusammenhang von Fitnessgrad und
Depressivität. Im Folgenden sollen beispielhaft drei typische Studien
kurz skizziert und kommentiert werden.
Die möglicherweise
bekannteste Studie stammt von Blumenthal und Mitarbeitern (1999). An ihr
beteiligten sich 156 Patienten im Alter von 50 bis 77 Jahren mit einer
„Major Depression“ (Durchschnitt: 57 Jahre). Die Teilnehmer erhielten
eine 16-wöchige Behandlung mit entweder nur Lauftraining (3mal
wöchentlich 45 Minuten, davon 10 Minuten Warm up, 5 Minuten Cool down),
nur täglich bis zu 200 mg Sertralin (durchschnittlich 100 mg) oder eine
Kombination aus beidem. Unter diesem Vorgehen verbesserte sich der
Depressionsscore der Patienten (Selbstbeurteilung nach BDI) in diesem
Zeitraum in allen drei Behandlungsgruppen eindrucksvoll und durchweg um
mehr als die Hälfte. Kritisch lässt sich jedoch zur Methodik einwenden:
1. Da es keine Placebo-Kontrollgruppe gab, bleibt unklar in welchem
Ausmaß auch eine von den Behandlungen unabhängige Spontanerholung eine
Rolle spielte. 2. Es handelte sich durchweg um sehr zum Sporttreiben
motivierte Patienten. 3. Da es sich um ein Gruppentraining handelte,
könnten auch soziale Effekte wesentlich zur Besserung beigetragen haben.
Interessant ist auch
die Fortführung dieser Studie durch die gleiche Forschergruppe (Babyak
u. a. 2000). Allen Studienteilnehmern, die im ersten Teil
„depressionsfrei“ geworden waren, wurden eingeladen, nach eigenen
Bedürfnissen die Behandlung fortzusetzen und ggf. die Behandlungsmethode
zu wechseln. Sechs Monate später zeigte sich, dass in der weiterhin
Sport treibenden Gruppe mit Abstand die geringste Rückfallquote zu
verzeichnen war. Von den Sporttreibenden wechselten auch die wenigsten
Personen (nur 7 Prozent) zu einer anderen Behandlungsvariante.
Regelmäßiges aerobes Sporttreiben war (unabhängig von einer
Medikamenteneinnahme) hoch signifikant (p < 0.0009) mit geringerer
Depressivität verbunden. Zusätzliches Sporttreiben (auch außerhalb von
Gruppen!) verringerte das Risiko, erneut depressiv zu werden (beurteilt
anhand der Odds Ratio), pro 50 Minuten jeweils um 50 Prozent. Da in der
Folgestudie ein großer Teil des Sporttreibens außerhalb von Gruppen
stattfand, konnten hier soziale Effekte keine so großen Beitrag mehr
leisten. Die Tatsache, dass Sporttreiben als Teil einer
Kombinationstherapie keinen vergleichbaren prophylaktischen Effekt
entfaltete, erklären sich die Studienautoren damit, dass die
betreffenden Patienten den Behandlungserfolg nicht ausschließlich ihrer
eigenen Leistung, sondern auch dem Medikament zuschrieben und daher
weniger Selbstvertrauen entwickeln konnten.
Der Frage „Wie viel
Sport wirkt antidepressiv?“ gingen Dunn und Mitarbeiter (2005) in einer
Studie an 80 Teilnehmern (Alter: 20-45 Jahre) nach. Diese litten an
einer leichten bis mittelschweren Major Depressive Disorder. Zwei
Gruppen trainierten 12 Wochen lang unter Aufsicht drei- bzw. fünf Mal
pro Woche auf einem Laufband oder Fahrradergometer, wobei sie je nach
Gruppe 7,0 (LD) bzw. 15,5 (PHD) kcal/kg/W pro Training verbrauchen
sollten. Eine dritte Gruppe diente als Kontrolle und machte drei Mal
wöchentlich Dehnungsübungen. Der Erfolg wurde anhand der Hamilton
Depressionsskala beurteilt. Es zeigte sich, dass der Depressionswert in
allen drei Gruppen sank. Aber nur der höhere Kalorienumsatz wirkte im
Vergleich zur Kontrollgruppe wie zur Gruppe mit niedrigerem
Kalorienumsatz stärker antidepressiv. Die höhere „Sportdosis“ entspricht
dem für Gesundheitszwecke empfohlenen öffentlich empfohlenen
wöchentlichen Sportpensum. Bezogen auf die gleiche Wochengesamtdosis
machte es keinen Unterschied, ob diese auf drei oder fünf
Trainingseinheiten verteilt wurde.
Überwiegend ernüchternd
fällt eine weitere Studie von Blumenthal und Mitarbeitern (2007) aus,
diesmal an 202 depressive Teilnehmern (Durchschnittsalter: 53 Jahre).
Diese unterzogen sich aufgeteilt in vier Gruppen 16 Wochen lang entweder
einem 45-minütigen Training (10 Min. Warmup + 30 Min. Laufband +und 5
Min. Cooldown) entweder (a) allein oder (b) in einer Gruppe
(supervidiert) oder (c) sie erhielten 50-200 mg Sertralin bzw. (d)
Placebo. Wie die Abbildung zeigt, besserte sich zwar in allen drei
Gruppen der Depressionsscore teilweise so weit, dass die Kriterien einer
MDD nicht erfüllt waren (a: 40 %, b: 45 %, c: 47 %, d: 31 %). Im
Vergleich zur Placebogruppe erzielten die drei anderen Gruppen aber kein
signifikant besseres Ergebnis. Dagegen besserte sich die Belastbarkeit
in den beiden Trainingsgruppen im Vergleich zur Placebogruppe
signifikant.
Eine Studie von Dimeo
und Mitarbeitern (2001) an 12 Patienten mit Major Depression (12-96
Monate) verdeutlicht, wie schnell sich depressive Symptome unter einem
Bewegungsprogramm bessern können (10-tägiges 30-minütiges Intervallgehen
auf Laufband). Die Intervention verringerte hoch signifikant die per
Fremdbeurteilung (HAMD) erhobenen Depressionswerte (p = 0,002),
entsprechendes galt auch für die Selbstbeurteilung (P = 0,006). Außerdem
wird die individuelle Streuung hier gut veranschaulicht.
Als letzte
Interventionsstudie, diesmal zum Themenbereich Kraftsport bei
Depression, sei beispielhaft auf eine Untersuchung von Singh und
Mitarbeitern (2005) eingegangen. Sie schloss 60 depressive Teilnehmer im
Alter über 60 Jahre (60 – 85 Jahre) ein. Diese wurden randomisiert drei
Interventionsformen zugeteilt: (a) einem Krafttraining mit 80 % bzw. (b)
mit 20 % der jeweiligen Maximalkraft bzw. (c) der üblichen Behandlung
beim Hausarzt. In den sportlich aktiven Gruppen wurde 8 Wochen lang 3
Mal pro Woche trainiert (jeweils 1 Stunde Krafttraining + 5 Min.
Stretching). Es erfolgten jeweils 3 Sets mit 8 Wiederholungen auf
verschiedenen Geräten. Bei den intensiv Trainierenden war die Rate jener
deutlicher höher, bei denen sich der HRDS-(Depressions)Score halbierte
(61 Prozent) als bei den leicht Trainierenden (29 Prozent) oder der
Hausarztgruppe (21 Prozent). Zwischen Kraftzuwachs und Rückgang der
Depressivität fand sich ein linearer Zusammenhang
(„Dosis-Wirkungs-Beziehung“). Soziale Effekte schienen also keine
wesentliche Rolle zu spielen. Bei den intensiv Trainierenden spielte es
für den antidepressiven Erfolg auch keine Rolle, wie stark oder schwach
sie von ihrem Training ein positives Ergebnis auf die Depression
erwartet hatten. Dagegen war ein solcher „Placebo-Effekt“ in der leicht
trainierenden Gruppe nachzuweisen: Je mehr ein Teilnehmer einen
antidepressiven Effekt erwartet hatte, umso deutlicher fiel dieser auch
trotz der geringen Traingsbelastung aus.
Als erstes Zwischenfazit
lässt sich festhalten: Günstige Effekte von Bewegung und Depression auf
Angsterkrankungen und Depressionen sind nachweislich bislang erst
in wissenschaftlich begleiteten prospektiven Studien zu registrieren. Es
ist daher nicht auszuschließen, dass Rahmenbedingungen des Sporttreibens
wesentlich zu den beobachtbaren Effekten beigetragen haben (wie
vermehrte Aufmerksamkeit, häufigere Kontakte, soziale Impulse, eigene
Erwartungen und Einstellungen der Teilnehmer zum Effekt des
Sporttreibens). Sporttreiben alleine und entgegen eigener Überzeugungen
zu betreiben, dürfte vermutlich weitaus weniger günstige psychische
Effekte erzielen.
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