Da Sport und Bewegung in unseren Medien
mittlerweile fast vorbehaltlos zur Behandlung vieler Volkskrankheiten
empfohlen werden, besteht die Vorerwartung, dass dies auch für seelische
Erkrankungen gilt. Sehr viele Studien scheinen dem auch Recht zu geben,
wobei die Studienlage zur Depression besonders gut und auf jeden Fall
besser als zu den Angststörungen ist. Daher existieren in neuerer Zeit
in „Leitlinien“ und Expertenbewertungen (Cochrane Collaboration) auch
schon offizielle Stellungnahmen zum Einfluss von Sport und Bewegung auf
Depressionen, während solche „unabhängigen“ Aussagen für die
Angststörungen vorerst noch fehlen (eine Bewertung durch die Cochrane
Collaboration ist jedoch bereits offiziell angekündigt!). In neuerer
Zeit (2008) kommt eine Metaanalyse von Wipfli und Kollegen zu der
Feststellung, dass Bewegung Angst deutlich besser verringern kann
(Effektgröße: -0,48) als andere Maßnahmen zur Angstreduktion
(Effektgröße: -0,19). Da die Autoren sich auf 49 Studien stützen, die
durchweg randomisiert und kontrolliert waren, glauben sie, eine
Empfehlung zur Behandlung von Angststörungen durch Sport von hoher
Evidenz aussprechen zu können (Level 1, Grade A). Grundsätzlich lässt
sich ansonsten feststellen, dass Sport und Bewegung sog. Zustandsangst
(„State Anxiety“) schon durch eine einzige Trainingseinheit lindern
können. Dagegen bedarf es für eine bedeutsame Besserung von
veranlagungsbedingter Ängstlichkeit (Trait Anxiety) intensiveren und
längeren Trainings. Eine Metaanalyse von Petruzello und Kollegen (1991)
kam zu der Feststellung, dass eine einzelne Trainingseinheit mindestens
21 Minuten betragen und die Gesamtbehandlung mindestens 10 Wochen dauern
sollte, um signifikante Effekte auf „Trait Anxiety“ registrieren zu
können.
Dass sich auch Angststörungen mit Hilfe eines geeigneten
Bewegungsprogramms bessern lassen, unterstreicht beispielhaft eine oft
zitierte und in Deutschland durchgeführte Studie von Broocks und
Kollegen (1998). In ihr erhielten 46 Patienten, die unter einer
Panikstörung (mit oder ohne Agoraphobie) litten, eine 10-wöchige
Behandlung in Form eines Lauftrainings. Dabei mussten die Teilnehmer je
nach Untergruppe mindestens dreimal pro Woche 4 Meilen laufen, täglich
das Medikament Clomipramin (anfänglich
37,5 mg, später 112,5 mg) oder Placebo einnehmen. Im Vergleich zu der
Placebogruppe sank in den beiden anderen Gruppen das Ausmaß der Angst
(beurteilt anhand der Hamilton Anxiety Scale) signifikant und ähnlich
stark. Das Laufprogramm schien also einer medikamentösen Behandlung
gleichwertig zu sein. Anhand dieser Studie lassen sich zugleich typische
methodische Schwierigkeiten aufzeigen, die eine vorsichtige
Interpretation der Ergebnisse solcher Studien gebieten. Folgende
Einwände sind beispielsweise denkbar: 1. Panik-Patienten (besonders mit
Agoraphobie) scheuen davon zurück, sich körperlich zu belasten und dafür
sogar noch ihre sichere Wohnung zu verlassen. Die Durchführung einer
„Exposition“ (Joggen im Freien) ist möglicherweise hilfreicher als die
Bewegung selbst. 2. Die Läufer konnten auch in Begleitung laufen. Einmal
pro Woche liefen sogar alle Läufer gemeinsam, so dass „soziale Effekte“
ebenfalls Angst lindernd wirksam werden konnten. 3. Die Betreuer wussten
teilweise, welche Patienten welche „Behandlung“ erhielten und waren
daher nicht neutral. 4. Die Läufer führten ein Trainingstagebuch
(mögliche zusätzliche Motivation). 5. Bei den Läufern und den
Placebo-Patienten war die Aussteiger-Quote hoch (31 bzw. 27 Prozent),
während kein Clomipramin-Anwender die Studie abbrach.
Dass es durchaus
überzeugende Hinweise für Einflüsse von Bewegung auf die Angstentstehung
im Organismus gibt, soll eine Untersuchung von Ströhle und Mitarbeitern
(2005) aufzeigen. Darin erhielten 15 Gesunde einmal nach Ausruhen und
einmal nach vorheriger 30-minütiger Laufbandbelastung eine Substanz, die
Panik auslöst (CCK-4 = Cystokin Tetrapeptid). Ergebnis: Nach Ausruhen
rief CCK-4 bei 12 Teilnehmern, nach vorherigem Laufen aber nur noch bei
6 Teilnehmern Panik hervor. Das vorherige Laufen schien den Organismus
„panikresistenter“ gemacht zu haben.
Medizinisch relevant
und bedeutsam erscheinen nicht zuletzt die Ergebnisse einer neuen Studie
(Herring u. Mitarbeiter 2010). Dabei handelt es sich um eine
„Metaanalyse“ von 40 Studien zur Anwendung von Bewegung bei chronisch
Kranken. Bewegung wurde entweder als Haupt- oder als Zusatzintervention
angewendet. Ergebnis: Mit einer durchschnittlichen Effektstärke von 0,29
(„mittlerer Effekt“) erscheint Bewegung als wirksame Behandlungsmaßnahme
zur Angstlinderung. Die deutlichste Wirkung war zu beobachten bei bis zu
12-wöchigem Training, mindestens 30 Minuten Trainingszeit und einer
Beurteilung nach Ablauf von mindestens einer Woche.
Zusammenfassend lässt
sich vorläufig feststellen: Bewegung erzielt neben einem zweifelsfreien
„akuten“ Angst lösenden Effekt offenbar auch längerfristige Angst
verringernde Effekte, wenn sie bei geeigneten Krankheitsbildern als
Zusatzmaßnahme eingesetzt wird. Inwieweit Bewegung auch als
Hauptintervention bei Angststörungen angewendet werden kann, ist vorerst
noch offen. Besonders geeignete Sportarten lassen sich noch nicht
benennen. Fest steht auf jeden Fall, dass Sporttreibende durchweg
weniger ängstlich und depressiv sind als sportlich inaktive Menschen
(Moor u. a. 2006). Dabei ist unklar, ob Sporttreiben wirklich seelisch
gesund hält oder ob nicht vielmehr seelische Gesundheit die Grundlage
dafür ist, Sporttreiben zu wollen und zu können. Auch ist denkbar, dass
Sporttreiben und seelische Gesundheit in keinerlei Wechselwirkung
stehen, sondern dass noch unbekannte Faktoren dafür sorgen, dass man
seelisch gesund ist und außerdem auch noch Sport treibt. Auf diese
Möglichkeit weist eine niederländische Studie hin (De Moor u. a. 2008)
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