Angststörungen und Depressionen liegt kein
eindeutiger, weil greifbarer Sachverhalt zugrunde (wie es etwa der Fall
ist bei einer Hautwarze, einem Gliedmaßenverlust, einer sichtbaren
Schwellung oder einer Erblindung). Unsere heute verbindlichen
Definitionen für beide Krankheitsphänomene sind noch vergleichsweise
jung. Sie stützen sich auf die beiden weltweit wichtigsten
Klassifikationssysteme: ICD 9 (1976, heute ICD 10) und DSM III (1980,
heute DSM IV). Sie haben andere Begriffe abgelöst, die in den 70er
Jahren des letzten Jahrhunderts noch im Gebrauch waren (z.B. „endogene
Depression“ oder „reaktive Depression“). Zu einem kritischen Umgang mit
beiden Konstrukten ermahnen auch interkulturelle Vergleiche, die zeigen,
dass man z.B. in Japan mit dem, was wir als Depression bezeichnen, bis
vor nicht allzu langer Zeit weitaus wertschätzender umging („Charakter
stärkende Erfahrung“), als es bei uns der Fall ist („auszurottende
Sinnlosigkeit“). Angststörungen und Depressionen beinhalten jeweils eine
durchaus beliebig anmutende Sammlung bzw. Zusammenfassung („Cluster“)
unterschiedlicher Symptome, von denen sie relativ viele gemeinsam haben
(wie Konzentrationsstörungen, Schwierigkeiten sich zu entspannen,
Unruhe, Schlafstörungen, Verspannungen, sozialer Rückzug). Mitunter kann
daher die Zuordnung schwer fallen (wobei die endgültige Diagnosewahl
immer auch stark durch Wissen und Interessen des Diagnostizierenden
beeinflusst ist) oder zu einer Doppeldiagnose führen. Besonders deutlich
ist der Konstruktcharakter im Fall der „depressiven Episode“, bei der
sich die genaue Diagnose durch ein Addieren von Symptomen ergibt.
So ist
z.B. für eine „leichte depressive Episode“ eines von drei vorgegebenen
Hauptsymptomen und zusätzlich mindestens zwei von sieben vorgegebenen
Zusatzsymptomen erforderlich. Im englischsprachigen Sprachraum ist nicht
die Rede von „depressiver Episode“, sondern von „Major Depression“,
deren Kriterien in einem eigenen Diagnostikmanual aufgeführt sind (heute DSM IV, DSM V ist in Vorbereitung). Die Major Depression ist etwas
anders „konstruiert“ als die „depressive Episode“ und kennt auch andere
Unterformen. Internationale Studien zur Depression sind daher nicht
immer vergleichbar! Nicht nur für den Laien wird die Situation nicht
zuletzt oft dadurch unübersichtlich, als mitunter fast synonym für
Depression oder Angststörungen auch die Begriffe „Burnout“ oder
„Stressbelastung“ verwendet werden. Letztere sind jedoch keine offiziell
anerkannten Diagnosen. Das Burnout-Syndrom lässt sich allerdings in
medizinische Dokumentationen als Z-Kriterium (Z73.0) aufnehmen
(Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur
Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen).
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