fzm -
Suizidales Verhalten ist ein alter Aspekt des menschlichen Daseins und
kommt als allgemein menschliches Phänomen in allen Gesellschaften und
zu allen Zeiten vor. Suizidales Denken und Handeln kann sowohl auf dem
Boden einer psychischen Störung oder Ausnahmeverfassung als auch einer
psychosozialen Krisensituation zustande kommen. Ein Aufsatz in der
Zeitschrift "Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie" (Georg Thieme
Verlag, Stuttgart. 2007) erläutert, dass die innere Einstellung vom
sozialen Umfeld geprägt wird und daher die Menschen in China, Japan
oder Indien völlig anderen Wertevorstellungen, Glaubensüberzeugungen
und Verhaltensnormen unterliegen als Amerikaner oder Europäer. Und
selbst hier gibt es Unterschiede, da beispielsweise die Differenz
zwischen den sehr hohen (Ungarn, Litauen, Weißrussland) und sehr
niedrigen Suizidraten (Griechenland, Iran, Mexiko) einem Faktor von 30
bis 40 entspricht. Diese Spannbreite steht in großem Kontrast zu der
Differenz der Häufigkeit anderer psychischer Störungen, wie etwa der
Schizophrenie, bei der die Häufigkeit in den verschiedenen
Studienzentren zwischen 1,5 und 4,2 pro 10.000 Einwohner schwankt.
Suizide waren in
Afrika ein verhältnismäßig ungewöhnliches Phänomen, und erst das
Eindringen der technischen Zivilisation und der Modernisierung hat
besonders in gebildeten und freiberuflichen Schichten zu steigenden
Raten geführt. Im Hinduismus wurde die Selbsttötung aus individuellen
Beweggründen heraus streng verurteilt. In Japan entwickelte sich der
Suizid in drei hoch ritualisierten Formen zu einem Bestandteil der
nationalen Tradition. Der Islam steht dem Suizid grundsätzlich
ablehnend gegenüber. Aus den Lehren Mohammeds geht hervor, dass der
Mensch sich zu jeder Zeit dem göttlichen Willen zu unterwerfen habe.
Das derzeitige Verüben von Selbstmordattentaten im Rahmen des Heiligen
Krieges ist anders zu bewerten. Im Judentum kam Selbsttötung
grundsätzlich selten vor. Im frühen Christentum hingegen kamen Suizide
in großem Ausmaß vor. Augustinus formulierte in seiner Schrift "De
civitate Dei" die erste offizielle kirchliche Verurteilung der
Selbsttötung. Im kanonischen Recht der katholischen Kirche gilt Suizid
weiterhin als Sünde. Dies kommt in den ungewöhnlich niedrigen
Suizidraten katholischer Länder zum Ausdruck, wie zum Beispiel
Italien, Spanien oder Irland. In vielen mittel- und osteuropäischen
Ländern wird Selbsttötung von der Gesetzgebung unverändert als
Verbrechen gewertet, so in Österreich, den ehemaligen Sowjetrepubliken
und Ungarn. In Großbritannien blieb Suizid bis 1963 ein
Straftatbestand, in Irland bis 1993.
Die Daten der WHO
zeigen, dass über die letzten drei Jahrzehnte die Suizidraten
innerhalb der weißen städtischen Bevölkerung Nordamerikas und Europas,
insbesondere bei männlichen Adoleszenten und jungen Erwachsenen
deutlich gestiegen sind. Neuere Daten aus der Volksrepublik China und
aus Indien bestätigen, dass die Suizidraten bei Frauen deutlich höher
liegen als bei Männern.
I. T. Callies:
Suizidalität im Kulturvergleich.
Fortschritte der Neurolologie, Psychiatrie 2007; 75 (11) S. 653-64
|