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Von wegen unbeschwerte ABC-Schützen: Viele Grundschüler in Deutschland
stehen unter Leistungsdruck. In der vierten Klasse, wenn die
Schullaufbahnempfehlung bevorsteht, klagt ein Großteil der Kinder
gleich über mehrere Befindlichkeitsstörungen, wie eine Untersuchung in
der Fachzeitschrift "Das Gesundheitswesen" (Georg Thieme Verlag,
Stuttgart. 2008) zeigt. Viele Eltern unterschätzen die Probleme. Vor
allem bei Migranten besteht ein Missverhältnis zwischen psychischen
Störungen und der Inanspruchnahme von Hilfsangeboten.
"Vielleicht waren
unsere Ergebnisse so schlecht, weil die Entscheidung über die weitere
Schullaufbahn unmittelbar bevorstand", räsoniert Dr. Steffen Häfner
von der Forschungsstelle für Psychotherapie in Stuttgart. Der
Wissenschaftler hatte Schüler und deren Mütter anlässlich einer
schulärztlichen Untersuchung nach psychischen Beschwerden gefragt:
Unter Aufregung, Einschlafstörungen oder Kopfschmerzen hatten jeweils
mehr als 20 Prozent der Kinder in den letzten sieben Tagen gelitten.
Aber auch Bauchschmerzen, Nervosität, Weinen, Schwindelgefühle oder
Traurigkeit kannte mehr als jeder zehnte Viertklässler. Und im
Durchschnitt gaben die Kinder mehr als zwei Beschwerden an.
Den Eltern blieben
die Probleme häufig verborgen. Nur etwa vier Prozent sahen bei ihrem
Kind einen Betreuungsbedarf und in etwa die gleiche Zahl hatte sich an
eine Beratungsstelle gewandt. Allerdings nicht wegen der psychischen
Beschwerden der Kinder. Die Eltern suchten vielmehr Rat wegen
Konzentrationsstörungen, oppositionellem Verhalten und anderen
Gründen, die den Schulerfolg des Kindes zu gefährden drohten.
Fast die Hälfte
der befragten Kinder stammte aus Migrantenfamilien. Vor allem die
Jungen klagten häufiger als ihre deutschen Mitschüler über
Beschwerden. Und öfter standen emotionale Störungen im Vordergrund.
Bei den Mädchen waren die Unterschiede geringer. Hilfsangebote gibt es
nach Ansicht von Dr. Häfner vor allem in den Außenbezirken der Städte
zu wenige und in Migrantenfamilien seien sie häufig nicht bekannt:
Unter den nicht deutschen Eltern sei nur jeder vierte der Ansicht
gewesen, dass psychosoziale Beratungsstellen für sie leicht erreichbar
seien, sagt Dr. Häfner. Fremdsprachliche Angebote könnten die
Situation möglicherweise verbessern.
Positiv: Erst
wenige Viertklässler hatten Erfahrungen mit Alkohol und Zigaretten
gemacht, wobei Dr. Häfner bei dieser Aussage eher zurückhaltend ist.
Die Fragebogen wurden unter Aufsicht ausgefüllt. Viele Schüler waren
vielleicht nicht ganz ehrlich. Das Alter von zehn bis elf Jahren sei
wohl die letzte Chance für vorbeugende Maßnahmen, befürchtet der
Experte. Auf den weiterführenden Schulen seien die Kinder nicht mehr
so gut erreichbar.
S. Häfner, B.
Schmidt-Lachenmann:
Psychische Symptome und Inanspruchnahmeverhalten bei Viertklässlern –
eine versorgungsepidemiologische Studie in Stuttgart.
Das Gesundheitsweisen 2008; 70 (4): S. 81-87