fzm - Das Internet bietet in seinen
interaktiven Foren, Chats und Spielen die Möglichkeit, anonym
aufzutreten und verschiedene Rollen anzunehmen. Dies geht so weit, dass
Menschen für mehrere Stunden am Tag und in verschiedenen Rollen,
virtuelle Beziehungen, Unternehmen, Staaten und Kriege führen. Ein
Beitrag in der Zeitschrift "Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie"
(Georg Thieme Verlag, Stuttgart) erklärt dieses Verhalten damit, dass
viele Menschen es offensichtlich als attraktiv empfinden, als ein
gegenüber dem realen Selbst Verschiedener aufzutreten und zu handeln.
Dabei geht es nicht nur um tabuisierte Sexualität und Gewalt, sondern
auch um das Ausleben narzisstischer oder romantischer Phantasien. Die
Ausübung von Sexualität und Gewalt gegenüber virtuell erzeugten
Erwachsenen und Kindern ohne direkte körperliche Schädigung kann bei dem
"Benutzer" psycho-physiologische Empfindungen hervorrufen, die denen
einer realen Handlung sehr nahe kommen. Es liegt auf der Hand, dass
Menschen, die einen Großteil der Tageszeit innerhalb einer oder mehrerer
virtueller Identitäten agieren, die attraktiver sind als die eigene
reale Identität, in Konflikt mit dieser geraten. Als Folgen einer großen
Differenz virtueller und realer Identitäten können Störungen des
Bewusstseins oder affektive Erkrankungen auftreten. Auch ist mit
aggressiven Impulsen zu rechnen. An
den Schnittstellen von Virtualität und Realität wird es im Zuge der
rasanten Entwicklung der neuen digitalen Medien voraussichtlich zu
weiteren Störungsbildern kommen. Umgekehrt könnte die digitale
Medienrevolution auch als Zeichen einer Entwicklung neuer menschlicher
Fähigkeiten gesehen werden. Der Mensch hat sich mit dem Cyberspace ein
Medium geschaffen, in dem er die Grenzen von Geographie, Biologie,
Ethnizität, Alter, Geschlecht und Identität überschreiten und ausloten
kann, ohne notwendigerweise die eigene Orientierung zu verlieren. Im
Gegenteil: Menschen können von ihrer Online-Reise mit einem verfeinerten
Sinn für ihr innerstes Selbst zurückkehren. Vielleicht liegt die Zukunft
des Menschen im medialen Raum. In jedem Fall jedoch werden die neuen
Medien bis auf weiteres mit der realen Existenz des Menschen, die
vermutlich seine zentrale Daseinsform bleiben wird, ein störanfälliges
Spannungsfeld bilden. Es ist abzuwägen, was sich eine Gesellschaft an
Virtualität zumuten kann.
Psychische Wirkungen der neuen digitalen
Medien.
Fortschr Neurol Psychiat 2004; 72; Nr. 10; S. 574-585.
Dr.med. Bert Theodor te Wildt, Klinische Psychiatrie und Psychotherapie,
MHH Hannover.
E-Mail: tewildt.bert@mh-hannover.de. |