Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie, Coaching, Mediation u. Prävention
Dr. Dr. med. Herbert Mück (51061 Köln)

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Flucht in die Virtualität

fzm - Das Internet bietet in seinen interaktiven Foren, Chats und Spielen die Möglichkeit, anonym aufzutreten und verschiedene Rollen anzunehmen. Dies geht so weit, dass Menschen für mehrere Stunden am Tag und in verschiedenen Rollen, virtuelle Beziehungen, Unternehmen, Staaten und Kriege führen. Ein Beitrag in der Zeitschrift "Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart) erklärt dieses Verhalten damit, dass viele Menschen es offensichtlich als attraktiv empfinden, als ein gegenüber dem realen Selbst Verschiedener aufzutreten und zu handeln. Dabei geht es nicht nur um tabuisierte Sexualität und Gewalt, sondern auch um das Ausleben narzisstischer oder romantischer Phantasien. Die Ausübung von Sexualität und Gewalt gegenüber virtuell erzeugten Erwachsenen und Kindern ohne direkte körperliche Schädigung kann bei dem "Benutzer" psycho-physiologische Empfindungen hervorrufen, die denen einer realen Handlung sehr nahe kommen. Es liegt auf der Hand, dass Menschen, die einen Großteil der Tageszeit innerhalb einer oder mehrerer virtueller Identitäten agieren, die attraktiver sind als die eigene reale Identität, in Konflikt mit dieser geraten. Als Folgen einer großen Differenz virtueller und realer Identitäten können Störungen des Bewusstseins oder affektive Erkrankungen auftreten. Auch ist mit aggressiven Impulsen zu rechnen.

An den Schnittstellen von Virtualität und Realität wird es im Zuge der rasanten Entwicklung der neuen digitalen Medien voraussichtlich zu weiteren Störungsbildern kommen. Umgekehrt könnte die digitale Medienrevolution auch als Zeichen einer Entwicklung neuer menschlicher Fähigkeiten gesehen werden. Der Mensch hat sich mit dem Cyberspace ein Medium geschaffen, in dem er die Grenzen von Geographie, Biologie, Ethnizität, Alter, Geschlecht und Identität überschreiten und ausloten kann, ohne notwendigerweise die eigene Orientierung zu verlieren. Im Gegenteil: Menschen können von ihrer Online-Reise mit einem verfeinerten Sinn für ihr innerstes Selbst zurückkehren. Vielleicht liegt die Zukunft des Menschen im medialen Raum. In jedem Fall jedoch werden die neuen Medien bis auf weiteres mit der realen Existenz des Menschen, die vermutlich seine zentrale Daseinsform bleiben wird, ein störanfälliges Spannungsfeld bilden. Es ist abzuwägen, was sich eine Gesellschaft an Virtualität zumuten kann.

Psychische Wirkungen der neuen digitalen Medien.
Fortschr Neurol Psychiat 2004; 72; Nr. 10; S. 574-585.
Dr.med. Bert Theodor te Wildt, Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, MHH Hannover.
E-Mail: tewildt.bert@mh-hannover.de.