fzm -
Mütter schätzen das Bindungsverhalten ihrer Kinder
anders ein als neutrale Dritte – sie idealisieren den Bindungsstil
ihrer Zöglinge und halten insbesondere ihre männlichen Babys für
bindungssicherer, als Beobachter es tun. Der Blick der Mutter auf
ihren Nachwuchs ist verklärt, wie die Psychologin Antje Haverkock vom
Institut für Medizinische Psychologie der Universität Gießen in der
jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift "PPmP Psychotherapie,
Psychosomatik und Medizinische Psychologie" (Georg Thieme Verlag,
Stuttgart. 2008) darlegt.
Der "Fremde-Situations-Test" (FST) ist ebenso einfach wie legendär:
Für kurze Zeit lässt die Mutter ihr Baby allein. Kehrt sie dann zu ihm
zurück, stellt sich die Frage: Was tut das Baby – wendet es sich der
Mutter zu oder weicht es ihr aus? Bindungssichere Kinder nehmen nach
der Beziehungsunterbrechung sofort wieder Kontakt zu ihrer Mutter auf,
bindungsunsichere hingegen nicht. Den Bindungsstil von Kindern messen
Psychologen mithilfe eines umfangreichen Fragebogens, dem sogenannten
Attachment Questionnaire Style (AQS). FST und AQS sind zwei
unterschiedliche Methoden, mit denen sich das Bindungsverhalten eines
Kindes erfassen lässt – der FST setzt auf Beobachtung, der AQS auf
Befragung.
Haverkamp hat das Bindungsverhalten von 64 Mutter-Kind-Paaren
wissenschaftlich ausgewertet. Die Kinder waren zum Zeitpunkt ihrer
Untersuchung 18 Monate alt. Mit den Kindern wurde der
Fremde-Situationstest (FST) durchgeführt; außerdem füllten sowohl die
Mütter der Kinder als auch geschulte Beobachter den 90 Aufgaben
umfassenden Fragebogen Attachment Questionnaire Style (AQS) aus. Um
das Verhalten des Kindes beurteilen zu können, analysierten die
Beobachter das Verhalten eines Kindes während zweier Hausbesuche von
mindestens dreißig Minuten Dauer.
Mütter, so Haverkock, nehmen das Verhalten ihres Kindes gemäß des
Bindungsfragebogens AQS anders wahr als neutrale Beobachter – die
Fragebogendaten von Müttern und Beobachtern sind nicht signifikant
miteinander korreliert. Das heißt: Beide Gruppen – Mütter und
Beobachter – sehen zwar das gleiche Kind vor sich, bewerten dessen
Verhalten aber unterschiedlich. "Insgesamt war festzustellen, dass
Mütter ihre Kinder bindungssicherer beschrieben", schreibt Haverkock.
"Die mangelnde Urteilsübereinstimmung von Beobachter und Müttern bei
Jungen könnte aus einer differierenden Interpretation des kindlichen
Verhaltens resultieren. So wäre denkbar, dass Mütter das Verhalten
ihrer Söhne in Richtung einer sicheren Bindung interpretieren und im
AQS beschönigend darstellen." Warum dieser "Beschönigungseffekt" bei
Jungen stärker ausfällt als bei Mädchen, ist unklar.
Anders als man hätte erwarten können, korrespondierten die Ergebnisse
der Mütterbefragungen mittels AQS und das Bindungsverhalten von
Kindern im Fremde-Situations-Test (FST) nicht: Je nachdem, ob man
Mütter-Befragung oder FST-Beobachtung als Methode wählt, resultieren
unterschiedliche Ergebnisse. Das wirft nach Ansicht von Haverkock die
Frage auf, ob Mütter das Bindungsverhalten ihrer Kinder überhaupt
zuverlässig – also valide – einzuschätzen vermögen.
Die Diskrepanz zwischen Fremd- und Mutterurteil ist groß – größer als
in vergleichbaren amerikanischen Studien. Da Mütter eine Tendenz
haben, bindungsunsichere Kinder fälschlicherweise als bindungssicher
zu klassifizieren, nähern sich Fremd- und Mutterurteil einander an,
wenn die Zahl der bindungssicheren Kinder in der zu analysierenden
Stichprobe groß ist. Ist die Zahl der bindungssicheren Kinder
verhältnismäßig klein, dann fallen Fremd- und Mutterurteil besonders
stark auseinander.
In der Studie von Haverkock wurde etwa jedes zweite Kind als
bindungssicher eingestuft, in US-Studien gelten zumeist etwa drei von
vier Kindern als bindungssicher. Klar ist: Gäbe es nur bindungssichere
Kinder, würden sich Mütter und Beobachter in ihrem Urteil wohl kaum
unterscheiden.
A. Haverkock, U. Pauli−Pott: Validität von Mutter− und
Beobachterurteilen über kindliches Bindungsverhalten.
PPmP Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie 2008;
58 (8):
S. 306-312