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In ihrer täglichen Praxis treffen Ärzte immer wieder auf Menschen, die
sich Verletzungen selbst zufügen. Oft dauert es viele Monate, bis die
Mediziner ihnen auf die Schliche kommen. Doch mit Vorwürfen und
Anschuldigungen ist den Patienten nicht geholfen. Sie benötigen eine
psychologische Betreuung, um die tieferen Ursachen der "heimlichen
Selbstmisshandlung" zu finden, schreibt ein Psychotherapeut in der
Fachzeitschrift "DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift" (Georg
Thieme Verlag, Stuttgart. 2008).
Die junge Frau,
deren Krankengeschichte Professor Kurt Fritzsche von der Universität
Freiburg beschreibt, war über drei Jahre immer wieder wegen
fieberhafter Infektionen mit Antibiotika behandelt worden. Doch sie
litt nicht an einer Abwehrschwäche, wie die Ärzte lange vermuteten.
Die Laborassistentin hatte sich regelmäßig schmutziges Wasser in die
Venen gespritzt. Als die Ärzte schließlich Verdacht schöpften, stritt
die Frau jede Manipulation ab, was nach Auskunft von Professor
Fritzsche, der an der Universität Freiburg Patienten psychosomatisch
betreut, nicht ungewöhnlich ist. Die Patienten leben hinter einer
selbsterrichteten Fassade, die nur schwer zu durchdringen ist. Sie
bestreiten ihre Tat beharrlich und alle Aufforderung das
selbstschädigende Verhalten zu beenden, prallen an ihnen ab.
Fritzsche deutet
die heimliche Selbstmisshandlung aber auch als "verstecktes
Beziehungsangebot" an den Arzt. Der Patient schreie förmlich nach
Hilfe, doch die Scham vor der eigenen Tat verhindere, dass er sich dem
Arzt offenbare. Hier sei viel Einfühlungsvermögen gefordert. Der
Patient müsse sich akzeptiert fühlen und er dürfe nicht die Angst
haben, das Gesicht zu verlieren.
Auf diese Weise
gelang es den Ärzten schließlich, die tieferen Beweggründe der jungen
Frau zu erfahren. Sie war nach einer Party vergewaltigt worden und
fühlte sich seither "schmutzig und wertlos". Mit den Antibiotika, die
sie sich durch die Verletzungen erschlich, wollte sie den Körper
reinigen. Körperlicher und sexueller Missbrauch, emotionale
Vernachlässigung, Trennungs- und Verlusterlebnisse werden oft durch
Selbstverletzungen verarbeitet. Durch die Identifizierung mit dem
Aggressor versuchen die betroffenen Menschen die Opferposition
aufzugeben und werden zum Täter, deutet der Psychosomatiker das
Verhalten.
Artifizielle
Erkrankungen, so der Fachausdruck der Mediziner, sind übrigens
keineswegs selten. Professor Fritzsche schätzt, dass zwei Prozent
aller Hausarztbesuche durch selbst beigefügte Verletzungen verursacht
werden. Oft seien es junge Frauen im Alter von 20 bis 30 Jahren und
nicht selten seien sie im Gesundheitswesen beschäftigt.
K. Fritzsche et
al.:
Artifizielle Krankheit - Fieber und verzögerte Wundheilung.
DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift 2008; 133 (19): S. 1004-1006