Die Menschen in den
Industrieländern hatten noch nie so viel zu verlieren wie heute:
Sicherheit, Wohlstand, hohes Konsumniveau, universelle Kommunikation,
fast unbeschränkte Mobilität. Diese und weitere Errungenschaften sind
mit schuld an der zunehmenden Anzahl von Angsterkrankungen (Angst leitet
sich vom Lateinischen "angustia" = Enge ab). Weitere Bezeichnungen der
bestuntersuchten menschlichen Emotion Angst haben griechischen Ursprung:
Der Hirtengott Pan, der durch sein hässliches Aussehen Angst und
Schrecken verbreitete, gab der Panik ihren Namen, und die Phobien gehen
auf Phobos, halb Löwe, halb Mensch, Sohn des Kriegsgottes Ares und der
Aphrodite, zurück. Jeder Zwanzigste beschreibt heute ernsthafte und das
Leben einschränkende Ängste. Dennoch stellt Angst als psychisches
Phänomen eine der wichtigsten Ressourcen für eine differenzierte
Bewältigung der Geschicke des Lebens dar, quasi eine Alarmsirene, die
das Leben des Menschen beschützen soll. Nur scheint sie zuweilen aus dem
Ruder zu geraten, und dann sprechen wir von Angststörungen. Menschen mit
Angststörungen haben Schwierigkeiten in vielen Lebensbereichen.
Die Menschen in Europa brauchen derzeit
keinen Krieg zu fürchten und die meisten haben auch keinen Krieg erlebt.
Dennoch ist nicht nur die subjektiv empfundene Bedrohungssituation groß.
Umweltzerstörungen, Erderwärmung, Vogelgrippe, Terrorismus oder auch
hohe Schuldenstände vor allem in den Ländern der Dritten Welt. Obwohl
die meisten Krisen hausgemacht sind, ändert sich wenig im individuellen
Verhalten. In einer Einführung zum Themenheft "Angststörungen" der
Zeitschrift "Psychotherapie im Dialog" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart)
werden die Lebens- und Zukunftsängste der heutigen Bevölkerung als
Ausdruck einer realitätsangemessenen Weltangst gesehen. Diese hat in
bedeutendem Maße ihre Wurzeln in Umweltzerstörung, Überbevölkerung und
Sinnverlust. Sie ist also selbst produziert aus einem unglaublichen
kollektiven Egoismus heraus. Aber diese Angst vor der Welt wird auch
gleichermaßen kollektiv verdrängt. Je hartnäckiger Angst verdrängt oder
verleugnet wird, umso mehr bahnen sich schädliche Wege an. Angst ist
nicht gefährlich, sie ist sogar notwendig. Gefährlich ist eine erstarrte
Form, die Angst abzuwehren und sie zu verleugnen. Folgerichtig ist zu
fordern, die Existenz der Angst und ihre Hintergründe eben nicht zu
verdrängen, sondern sie in konstruktiven Handlungen zu bewältigen.
Für das psychotherapeutische Handeln
bedeuten diese Überlegungen: die Angst wahrzunehmen und sich der Angst
zu stellen, die Existenz von Angst auch in ihrer Sinnhaftigkeit zu
erkennen, das Aufgeben von Verdrängungen und Vermeidungen zu
unterstützen sowie die Hintergründe der Angst und ihre Einbindung in das
soziale System zu verstehen. Die Verhaltenstherapie sieht sich
prädestiniert für die Behandlung von Angststörungen. Die Alltagspraxis
zeigt aber, dass sie alleine nicht in der Lage ist, so umfassende
Konstrukte wie die menschliche Angst hinreichend zu erklären. Gleiches
gilt auch für die Psychoanalyse. Weil Angststörungen eine äußerst
komplexe psychische Problematik mit vielen individuellen Variationen
darstellen, erscheint die Forderung nach einer dieser Komplexität
entsprechenden Therapie angemessen.
Dies führt zur integrativen
Psychotherapie der Angststörungen. Sie zeichnet sich durch die
Kombination verschiedener Interventionstechniken unterschiedlicher
therapeutischer Schulen aus. Leitend ist die Annahme, dass keiner der
einzelnen Therapieansätze beanspruchen kann, für alle Patienten und für
alle Störungen die besten therapeutischen Strategien parat zu haben. Da
sehr viele unterschiedliche Kombinationen möglich sind, gibt es auch
nicht "den" integrativen Therapieansatz. Im Prinzip baut integrative
Psychotherapie verhaltenstherapeutische, körpertherapeutische und an
Prozesserfahrung orientierte Anteile aus der dialogischen
Gestalttherapie in ein integriertes Bild der Störung ein und konstruiert
aus diesen die passende Interventionsstrategie. Eine erste empirische
Überprüfung erbrachte viel versprechende Ergebnisse.
Pan, Phobos und die kollektive
Weltangst.
PiD Psychotherapie im Dialog 2005; 6; Nr. 4;
S. 351-352.
Dr. Michael Broda, 66994 Dahn,
E-Mail: dr.michael.broda@t-online.de;
Dr. Steffen Fliegel, 48155 Münster,
E-Mail: klinischepsychologiemuenster@t-online.de
Angststörungen: Grundlagen und ein
integrativer Ansatz.
PiD Psychotherapie im Dialog 2005; 6; Nr. 4;
S. 353-361.
Prof. Dr. Willi Butollo, Dr. Markos
Maragkos, Universität München.
E-Mail:
wbutollo@psy.uni-muenchen.de
Quelle: PsychPress
Januar 2006 (Thieme-Verlag)
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