In der Suchthilfe spielt das Thema Familie traditionell eine Nebenrolle. Aber
das wird sich ändern, wie exemplarisch der Titel einer Studie suggeriert:
"Familientherapie als Frühintervention bei drogenabhängigen Jugendlichen,
jungen Erwachsenen und deren Müttern". Durch das Ausklammern der Familien
Suchtkranker werden finanzielle und gesundheitsökonomische Ressourcen
vergeudet. In den USA gehören familientherapeutische Ansätze mittlerweile zum
Behandlungsstandard im Suchtbereich. Auch hierzulande setzt sich, wenn auch
zögernd, die Erkenntnis durch, dass Suchtstörungen vielfach in Familien
entstehen und weitergegeben werden. Ein Aufsatz in der Zeitschrift
"Suchttherapie" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart) tritt dafür ein, dass bei
vielen Betroffenen zunächst eine Familienbiographie über mehrere Generationen
betrachtet werden sollte, bevor andere therapeutische Interventionen greifen
können. Familiäre Systeme bilden im Laufe ihrer Entwicklung bestimmte Muster
im Umgang miteinander aus, die sich über Generationen wiederholen. Die
beobachtbare Symptomatik – in dem vorliegenden Zusammenhang die
Alkoholkrankheit – besitzt eine bestimmte Funktion für die Aufrechterhaltung
dieser Muster.
Eine solche Mehrgenerationenperspektive lässt
sich am besten in einem Familiendiagramm darstellen, das auf anschauliche
Weise die familiäre Verbindung zwischen Ereignissen und Beziehungen in
Lebensgeschichten sowie Muster von Gesundheit und Krankheit verdeutlicht. Ein
solches Genogramm hat sowohl eine diagnostische als auch eine therapeutische
Funktion. Bei der Untersuchung mehrerer Familien von Suchtkranken zeigte sich,
dass in jeder Familie eine spezifische und sich bereits über Generationen
entwickelte familiäre Problematik anzutreffen ist und sich viele Muster
wiederholen. In einigen Fällen stellen die Sucht und der gesamtfamiliäre
Umgang damit bereits ein normatives Muster dar. Suchtverhalten wird als
Bewältigungsstrategie gelernt und demnach zu einer "normalen" Verhaltensweise.
Es besteht eine therapeutisch bedeutsame Funktionalität der
Alkoholabhängigkeit auf unterschiedlichen Ebenen.
Die Funktionalität der Alkoholabhängigkeit
auf dem Hintergrund mehrgenerationaler familiärer Muster.
Suchttherapie 2006; 7; Nr. 2; S. 45-51.
Dr. phil. Brigitte Gemeinhardt, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
E-Mail: gemeinha@uke.uni-hamburg.de
|