Es ist eine weit verbreitete öffentliche Meinung, dass psychisch Kranke
besonders gefährlich und gewalttätig seien. Angesichts der stetigen Zunahme
von Einweisungen in den Maßregelvollzug wird der Frage nach der tatsächlichen
Gewaltbereitschaft psychisch Kranker in den letzten Jahren zunehmendes
Interesse gewidmet. Eine Auswertung der Literatur des letzten
Vierteljahrhunderts in der Zeitschrift "Fortschritte der Neurologie,
Psychiatrie" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart) gelangt zur Aussage, dass das
Risiko für Kriminalität und Gewaltkriminalität bei Patienten mit Psychosen,
verglichen mit dem der Allgemeinbevölkerung, leicht erhöht ist. Dies gilt
primär für Patienten mit der Diagnose Schizophrenie. Allerdings ist diese
Risikoerhöhung deutlich geringer als die bei Patienten mit Alkohol- und
Drogenmissbrauch beziehungsweise Persönlichkeitsstörungen. Sie ist in erster
Linie schichtspezifischen Merkmalen und dem bei schwer psychisch Kranken
deutlich häufiger als in der Allgemeinbevölkerung zu beobachtenden
Substanzmissbrauch zuzuschreiben. Nur bei schwerer und schwerster
Gewalttätigkeit ist auch unter Berücksichtigung sozialer und zusätzlich krank
machender Faktoren ein direkter Einfluss der Psychose, vor allem in Form
paranoid-halluzinatorischer Symptomatik, nachweisbar. Angesichts dieses
Umstandes sind politische Forderungen nach einem restriktiveren Umgang mit
psychisch Kranken unsinnig und kontraproduktiv. Vonnöten wären vielmehr
Aktivitäten zur suffizienten Versorgung einer Risikogruppe schwer Kranker.
Dies könnte zu einer Verbesserung der oft katastrophalen Lebenssituation
vieler vom Gesundheitswesen zunehmend vernachlässigter Patienten führen und
bestenfalls einen minimalen Beitrag zur Erhöhung der öffentlichen Sicherheit
leisten.
Untersuchungen zur Frage des Zusammenhangs
zwischen Psychosen und Kriminalität/Gewalttätigkeit.
Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie 2006; 74; Nr. 2; S. 85-100.
Dr. Hans Schanda, Justizanstalt Göllersdorf. E-Mail:
hans.schanda@meduniwien.ac.at
Dr. phil. Brigitte Gemeinhardt, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
E-Mail: gemeinha@uke.uni-hamburg.de |