Legasthenie liegt in den Genen
DGKJP: Sechs Chromosomen-Regionen kommen in Frage -
Früherkennung möglich - Training im Kindergarten erfolgreich
Neuere Forschungen weisen darauf hin, dass eine
Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) zu einem großen Teil genetisch bedingt
ist. Dies teilt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und
Jugendpsychiatrie (DGKJP) mit. Sprachwahrnehmung und -verarbeitung sind
bereits früh gestört; äußere Faktoren wie Elternhaus und soziale
Umgebung wurden bisher überbewertet. LRS gehört zu den häufigsten
Entwicklungsstörungen, vier bis fünf Prozent der Schulkinder sind davon
betroffen.
Bisher wurden sechs Regionen auf den Chromosomen 1, 2, 3, 6, 15 und 18
identifiziert, die die Lese- und Rechtschreibfähigkeit indirekt
beeinflussen. „Möglicherweise liegen dort Gene, die bestimmte Funktionen
der Sprachverarbeitung steuern. Sind diese gestört, kann es zu Problemen
beim Erwerb der Schriftsprache kommen", erläutert Prof. Helmut
Remschmidt von der DGKJP. Rund 50 Prozent der Lese- und 60 Prozent der
Rechtschreibfähigkeit beruhen auf Vererbung, bei Jungen ist der
genetische Einfluss im Vergleich zu Mädchen größer. Auch die familiäre
Vorbelastung spielt eine Rolle: In Familien, in denen bereits LRS
vorkommt, ist die Rate der Betroffenen höher.
Gestörte Funktionen des visuellen und auditiven Cortex (Hirnrinde)
spielen mittlerweile eine große Rolle in der Ursachendiskussion. Mit
modernen Verfahren wie der Positronenemissionstomographie und der
Magnetresonanztomographie kann inzwischen bildlich dargestellt werden,
wie bestimmte Hirnregionen bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von
Wörtern und Buchstaben reagieren. So werden bei Kindern mit LRS Areale
der linken Hirnrinde erst mit deutlicher Verzögerung aktiviert. Gebiete
in der Schläfengegend, in denen hauptsächlich das Zusammenführen der
Buchstaben zur entsprechenden Lautformation stattfindet, sind deutlich
geringer aktiviert. In anderen Regionen kommt es hingegen zu
Überaktivierungen, die darauf hinweisen, dass die Kinder die
Leseschwäche auf ineffektive Weise zu kompensieren versuchen. Die DGKJP
macht darauf aufmerksam, dass häufig vermutete Zusammenhänge mit
Linkshändigkeit, Geburtsschädigungen oder motorischen Schwächen nicht
nachgewiesen werden konnten.
Früherkennung schon im Kindergarten
Die neuen Erkenntnisse machen es möglich, Risikokinder schon im
Vorschulalter zu erkennen. „Es wurden bereits standardisierte Verfahren
zur Früherkennung im Kindergarten getestet“, so Prof. Remschmidt. „Damit
ließen sich Lese- und Rechtschreibschwächen, die dann etwa ab der
zweiten Klasse auftraten, recht gut vorhersagen.“ Darauf aufbauend wurde
auch ein intensives Training entwickelt, mit dem bereits im Kindergarten
die Lese- und Rechtschreibleistung in den ersten drei Grundschuljahren
positiv beeinflusst werden kann. „Es ist sehr wichtig, eine LRS
frühzeitig zu erkennen“, betont Prof. Remschmidt. „Sie wächst sich nicht
aus, die Schwierigkeiten verringern sich entgegen der häufigen Ansicht
mit Einsetzen der Pubertät nicht.“ Längsschnittstudien haben ergeben,
dass eine LRS sehr entwicklungsstabil ist. Die Schulabschlüsse sind im
Durchschnitt wesentlich schlechter, die Betroffenen erreichen eine
deutlich weniger qualifizierte Berufsausbildung und sind häufiger
arbeitslos. 6,4 Prozent der erwachsenen Deutschen erreichen nach Angaben
der DGKJP nicht einmal das Lese- und Rechtschreibniveau von
Viertklässlern.
Psychisch auffällig?
Oft verbirgt sich eine Legasthenie dahinter
Kinder mit
Legasthenie fallen oft erst durch Verhaltensstörungen in Form von
Herumkaspern, aggressiven Durchbrüchen oder emotionalen Problemen wie
Traurigkeit, Angst vor der Schule oder Bauch- und Kopfschmerzen vor
Klassenarbeiten im Fach Deutsch auf. Die Deutsche Gesellschaft für
Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP) weist darauf hin, dass diese
Symptome oft falsch eingeordnet werden und zu selten ein Facharzt
herangezogen wird. Prof. Helmut Remschmidt (DGKJP): „Bei
Leistungsproblemen in der Schule und psychischen Auffälligkeiten sollte
immer auch auf die Möglichkeit einer Lese-Rechtschreib-Störung hin
diagnostiziert werden. Die Diagnose sollte von Fachärzten für Kinder-
und Jugendpsychiatrie gemeinsam mit Psychologen und in Kooperation mit
der Schule durchgeführt werden.“
Quelle:
DKJP |