Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Nervenheilkunde (DGPPN) kritisiert nachdrücklich die jüngst
veröffentlichte Stellungnahme des Nationalen Ethikrates zum Thema
„Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“. In diesem
Positionspapier, das ohne die Einbeziehung von Experten aus dem
psychiatrisch-psychotherapeutischen Kompetenzbereich erarbeitet wurde,
plädiert der Rat u.a. dafür, in ganz besonders gravierenden Fällen eine
Beihilfe zur Selbsttötung zu erlauben.
Nach Auffassung der DGPPN besteht gerade im
Umgang mit Sterbenden eine besondere Schutz- und Fürsorgepflicht der
Gesundheitsfürsorge und des demokratischen Staates für seine Bürger.
Diese Fürsorgepflicht hat Vorrang vor einer mitunter falsch verstandenen
Selbstbestimmungsgläubigkeit, wenn der „autonom sterbende Patient“ nicht
zu einem sowohl einsamen und verlassenen, als auch unbehandelten und
unversorgten Menschen werden soll. Für die DGPPN widerspricht „Tötung
auf Verlangen“ dem beruflichen Selbstverständnis der Ärzte und wird,
nicht zuletzt vor dem Hintergrund der deutschen Euthanasie-Geschichte,
abgelehnt. „Beihilfe zur Selbsttötung“ ist nach Ansicht der
wissenschaftlichen Fachgesellschaft keinesfalls mit dem ärztlichen Ethos
vereinbar. Die heute vorhandenen Handlungsoptionen, die von der
Sterbebegleitung bis hin zur Schmerzbehandlung bzw. bis zur so genannten
terminalen Sedierung reichen, sind voll ausreichend und sollten
entsprechend genutzt werden.
Die deutsche Rechtssprechung folgt bei den
Aspekten Suizid und Suizidverhütung dem Primat des Schutzes der
Menschenwürde. Dementsprechend ist die rechtliche Gestaltung auf dem
Feld der Suizidologie sehr differenziert ausgelegt. Nach dem Verständnis
der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Nervenheilkunde hat der Staat daher nicht nur das Recht auf Leben,
sondern in Extremsituationen auch das Leben des Einzelnen vor diesem
selbst zu schützen. Das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Menschen
ist damit nicht höher zu bewerten als das höchste Gut, das Leben selbst.
Dies gilt besonders dann, wenn der Betreffende an einer psychischen
Erkrankung, beispielsweise an einer Depression, leidet, die seine
Urteilsfähigkeit einschränkt. In einem solchen Fall kann nicht von einer
selbst bestimmten Entscheidung gesprochen werden, sondern die adäquate
Behandlung der Erkrankung muss erst die Fähigkeit zu einer selbst
bestimmten Urteilsfähigkeit wiederherstellen. In den weitaus meisten
Fällen besteht kein Sterbewunsch mehr, ist die Krankheitsphase durch
entsprechende Therapie erst einmal überwunden. Aus
psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht ergibt sich für die DGPPN
daraus eine zwingende Pflicht zur Suizidprävention, die von Ärzten oder
Angehörigen anderer Heilberufe wahrzunehmen ist.
Wie bereits dargestellt, haben viele der
durch Suizid Verstorbenen zum Zeitpunkt ihrer Selbsttötung an einer
psychischen Erkrankung gelitten: Zwei Drittel der späteren Suizidenten
leiden an einer Depression. Weiterhin ist bekannt, dass bis zu 15
Prozent aller schwer depressiv Kranken im Laufe ihres Lebens durch
Selbsttötung sterben. Ferner steht unsere Gesellschaft vor dem Problem,
dass körperliche Erkrankungen mit einem Anteil von mindestens 40 Prozent
zum Phänomen Suizid beitragen. Besonders gravierend ist dies, wenn
schwere Erkrankungen, ungünstige Therapieprognose und Einschränkung der
Lebensqualität sowie Schmerzerwartung und -erfahrungen zu Depressionen
und erhöhter Suizidneigung führen. Die adäquate Behandlung psychischer
Erkrankungen, die das Risiko eines Suizids erhöhen, auch wenn sie
körperliche Erkrankungen begleiten, steht somit im Vordergrund.
Suizidale Handlungen werden eher überlebt,
wenn der Betroffene über ein tragfähiges soziales Netz (interaktionelles
Feld) verfügt. Dabei spielt der appellative und interaktionelle
Charakter bei suizidalen Handlungen eine große Rolle und trägt
wesentlich zum Überleben in der Krise bei. Aus
psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht sind gerade Ärztinnen und
Ärzte gefordert, aktiv zu Gunsten der Betroffenen einzugreifen.
Nach Auffassung der Deutsche Gesellschaft
für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde kann es allerdings
auch aus Sicht der Suizidprävention keine Suizidverhütung mit allen
Mitteln und um jeden Preis geben. So wäre eine ärztliche Entscheidung
vor Ort, einen Menschen mit einer Suizidhandlung nicht mehr zu
reanimieren bzw. intensiv-medizinisch zu betreuen, wenn das Sterben nur
hinausgezögert, aber nicht mehr verhütet werden kann, eine zwar ethisch
schwierige, aber aus ärztlicher Sicht vertretbare Position, die sich aus
dem „Sterben lassen“ als einem aktivem Handeln ergeben kann und damit
weder mit einer Strafe bewehrt noch berufsrechtlich geahndet werden
sollte.
Insgesamt also wurde in der Stellungnahme
des Nationalen Ethikrats die Rolle psychischer Erkrankungen für einen
möglichen Sterbewunsch nicht ausreichend bewertet. Die Deutsche
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde fordert
den Nationalen Ethikrat deshalb auf, die in der vorliegenden
Stellungnahme angesprochenen Gesichtspunkte unter Hinzuziehung
entsprechender Fachkompetenz zu berücksichtigen und die Stellungnahme
entsprechend zu modifizieren.
Quelle: DGPPN vom 27.07.2006 |