Die Abhängigkeit von Medikamenten ist mit 1,7 Millionen Menschen häufiger als
die Alkoholsucht, aber sie wird von den Ärzten kaum beachtet, manchmal sogar
gefördert. Ging man 1992 noch von 600.000 Medikamentenabhängigen aus, bewegen
sich aktuelle Schätzungen zwischen 1,4 und 1,9 Millionen, davon nehmen zwei
Drittel Beruhigungsmittel aus der Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine. Im
Gegensatz zu Alkoholabhängigen und Konsumenten illegaler Drogen fallen
Menschen mit Medikamentenmissbrauch in der Öffentlichkeit nicht auf, sie
wirken angepasst, sozial integriert und leistungsorientiert. Ein Beitrag in
der Zeitschrift "Suchttherapie" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart) sieht eine
der Ursachen für die Zunahme Medikamentensüchtiger in einem komplexen
Bedingungsgeflecht, das Umweltmerkmale (etwa steigende
Flexibilitätsanforderungen im Beruf, sinkende Ressourcen sozialer
Unterstützung, subtile Werbungseinflüsse), individuelle
Persönlichkeitsmerkmale sowie konkrete Eigenschaften bestimmter Arzneimittel
in gleicher Weise umfasst. Der soziale Zusammenhalt, das gesellschaftlich
verfügbare "Sozialkapital" verflüchtigt sich zusehends. Hinzu treten der
Bedeutungsverlust der Familie, die Pluralisierung von Lebensformen. Als Folgen
des brisanten Wandels nehmen Arbeitsunfähigkeiten aufgrund psychischer
Störungen seit Jahren beharrlich zu.
Fachgesellschaften empfehlen eine zeitliche
Begrenzung der Gabe von Benzodiazepinen, aber eine Ächtung jeglicher
Langzeitverordnung wurde bisher vermieden. Damit eine solche
Langzeitverordnung nicht auffällt, weichen manche Ärzte auf Privatrezepte aus
und entziehen sich so einer Kontrolle. Wie ein weiterer Beitrag in der
Zeitschrift "Suchttherapie" enthüllt, empfehlen manche Ärzte ihren Patienten
sogar, die Rezepte nicht ständig bei der gleichen Apotheke einzulösen. Solche
Ärzte verhalten sich wie Dealer. Aber auch Apotheken können bei der
Abhängigkeit von Medikamenten eine unrühmliche Rolle spielen, indem sie an
offensichtlich Abhängige Benzodiazepine auch ohne Rezept oder aufgrund
erkennbar gefälschter Rezepte abgeben. Zwar ist richtig, dass Benzodiazepine
wesentlich zur Humanisierung der Medizin beigetragen haben, aber jeder Arzt
weiß, dass die Langzeitverschreibung mehr schadet als dass sie nutzt.
Der Benzodiazepinentzug und dessen
Behandlung.
Dr. Rüdiger Holzbach, Westfäl. Kliniken Warstein und Lippstadt.
E-Mail: ruediger.holzbach@wkp-lwl.org
Abhängigkeit von Medikamenten –
Anmerkungen aus Sicht ärztlicher Körperschaften.
Dr. rer. pol. Michael Wüstenbecker, KV Westfalen-Lippe.
E-Mail: michael.wuestenbecker@kvwl.de
Suchttherapie 2006; 7; Nr. 3; S. 97-106, S.
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