Frage: Manche Menschen schämen sich, wenn jemand anderem etwas Peinliches
widerfährt. Manche nennen dies „Fremdschämen“. Warum schämt sich jemand
für einen anderen?
Dr.
Mück:
Soweit ich das beurteilen kann, haben sich Wissenschaft und Praxis noch
nicht durchgerungen, „Fremdscham“ als eigenständiges und von herkömmlicher
Scham zu unterscheidendes Gefühl anzusehen. Davon abgesehen gibt es
mittlerweile ausreichende Erkenntnisse aus der Hirnforschung, die uns
vorstellbar machen, wie es im Gehirn zu solchen Vorgängen wie einer
„Fremdscham“ kommen kann. Wir wissen heute, dass es in unserem Gehirn
sogenannte Spiegelnervenzellen („Spiegelneurone“) gibt, die sowohl dann
aktiv werden, wenn wir etwas Bestimmtes selbst tun, oder wenn wir nur
beobachten, wie ein anderer Entsprechendes vornimmt. Der Tatsache, dass in
beiden Fällen genau die gleichen Zellen in uns die jeweilige Information
verarbeiten, macht verständlich, warum wir uns in andere Menschen (mehr
oder weniger gut) einfühlen können. Anders ausgedrückt: Unsere
Gehirnzellen spielen innerlich nach bzw. simulieren, was wir gerade
beobachten, so als würden wir das Beobachtete selbst vornehmen. Wenn
unsere Aufmerksamkeit also auf jemanden gerichtet ist, dem gerade
Peinliches widerfährt, vermittelt uns unser Gehirn sofort eine Vorstellung
davon, wie sich so etwas für uns selbst anfühlen würde. Die Psychologie
würde in diesem Fall auch von „Identifikation“ sprechen.
Da
unser Gehirn nur „simuliert“, was sich im Inneren einer beobachteten
Person gerade abspielen könnte, können wir „Fremdscham“ auch dann spüren,
wenn der Beobachtete selbst keinerlei Scham empfindet, er beispielsweise
gar nicht merkt, in welches Fettnäpfchen er gerade getreten ist. Ein
klassisches Beispiel wäre eine Situation im Ausland, wo ein Deutscher
beobachtet, wie sich ein anderer Deutscher sichtlich daneben benimmt. Ein
weiteres Beispiel für Fremdscham liefert der Fernsehzuschauer, der massive
Scham spürt, während er am Bildschirm miterlebt, wie ein Moderator seinen
Studiogast in ausweglos peinliche Situationen bringt. Bei beiden
Beispielen ist denkbar, dass sich die vordergründig wahrgenommene
„Fremdscham“ zusätzlich mit Scham über die eigene Person paart. So könnte
sich im Auslandsbeispiel der Beobachter auch dafür schämen, dass er mit
dem sich peinlich verhaltenden Landsmann die Nationalität teilt, so dass
er selbst von anderen dem Bild der „typisch Deutschen“ zugerechnet werden
könnte (ähnlich wie sich Eltern schämen, wenn sich ihre Kinder in die
Öffentlichkeit daneben benehmen). Außerdem könnte er sich für sich selbst
schämen, weil er die Situation nur beobachtet hat und nicht mutig
eingeschritten ist, um die Situation „zu retten“. Der Fernsehzuschauer
könnte sich zusätzlich zur erlebten Fremdscham auch deswegen selbst
schämen, weil ihm bewusst wird, dass er „es offenbar nötig hat, sich
solche peinliche Sendungen anzusehen“. Vielleicht wird ihm in Form der
Scham auch bewusst, dass er letztlich solche Sendungen fördert, indem er
sie sich immer wieder anschaut, statt auf weniger peinliche Programme zu
wechseln („Abstimmung per Fernbedienung“). Kurzum: Häufig dürfte bei
„Fremdscham“ immer auch eine Portion „Eigenscham“ mitspielen. Dies wird
den Betroffenen nur nicht bewusst, weil der die „Fremdscham“ hervorrufende
Vorgang viel spektakulärer erscheint als das eigene Verhalten.
Frage: Welche
Menschen sind anfällig für Fremdscham? (d.h. gibt es Menschen, die dafür
stärker anfällig sind als andere und wenn ja warum?)
Dr.
Mück:
Neigung (Interesse) und Fähigkeit, andere Menschen wahrzunehmen und sich
mit diesen gegebenenfalls zu identifizieren, sind von Mensch zu Mensch
unterschiedlich stark ausgeprägt. Ich vermute, dass vor allem solche
Personen zu Fremdscham neigen und darunter leiden, denen in der Kindheit
nicht die Fähigkeit vermittelt wurde, ausreichend genau zwischen eigenen
und fremden Gefühlen zu unterscheiden. Die jeweiligen Bezugspersonen haben
nicht vorgeführt, wie man darauf achtet, wo ein Gefühl zu lokalisieren ist
und wie man auf eigene und fremde Gefühle reagieren kann
(„Emotionskompetenz“). In der Folge werden die bei anderen wahrgenommenen
oder vermuteten Gefühle dann immer wieder mit eigenen vermengt, weil dem
Gehirn – mangels Vorbild – eine innere Instanz fehlt, die solche
Unterscheidungen vornehmen könnte. Um „Fremdscham“ zu spüren, muss man
generell für Scham empfänglich sein. Wer sich vermehrt schämt, weil er in
seinem Leben bedeutsame beschämende Erfahrungen machen musste, ist sicher
auch vermehrt für das Erleben von „Fremdscham“ anfällig. Wie schon
erwähnt, versucht unser Gehirn, das innerlich „nachzuspielen“, was wir bei
anderen beobachten. Dafür braucht unser Gehirn genügend vorausgegangene
Erfahrungen, um mit deren Hilfe die Simulation („innere Hochrechnung“)
durchzuführen. Wer viele Erfahrungen mit Scham gemacht hat, bei dem wird
das Gehirn, bereitwillig und häufig Simulationen (in Form von
„Fremdscham“) zur Verfügung stellen, wenn es glaubt, im Verhalten eines
anderen Menschen genügend Hinweise für „Peinliches“ gefunden zu haben.
Frage: Ist
Fremdschämen schädlich? Muss ich mir Sorgen machen, wenn ich mich intensiv
fremdschäme?
Dr.
Mück:
Wenn sich jemand in herkömmlicher Weise sehr schämt, hat er oft ein
schwaches Selbstbewusstsein und neigt dadurch zu psychischen Problemen,
wie etwa einer sozialen Phobie (Vermeiden des prüfenden Blicks anderer)
oder einer Depression. Bei einer „Fremdscham“ scheinen solche Konsequenzen
auf den ersten Blick weniger wahrscheinlich. „Fremdscham“ wird in aller
Regel aber nicht isoliert auftreten, sondern setzt ein ausreichend starkes
generelles Schamempfinden voraus. Wenn jemand „verstärkt“ unter
„Fremdscham“ leidet, ist sein Hauptproblem daher wohl eher darin zu sehen,
das der Betreffende überhaupt zu vermehrter Scham neigt. Dem Schämen an
sich und weniger der Fremdscham sollte dann die Hauptaufmerksamkeit
gelten. Wie alle Gefühle hat auch die Fremdscham einen
Mitteilungscharakter: Fast immer zeigt sie an, dass sich unsere
Vorstellungen davon, wie sich Menschen verhalten sollten (uns selbst
eingeschlossen) nicht mit unseren aktuellen Beobachtungen und Erfahrungen
decken. In einem solchen Fall sollte man sich weniger Sorgen über die
Gefahren des „Fremdschämens“ machen. Vielmehr sollte man sich fragen, ob
man das eigene Verhalten nicht so verändern kann (etwa durch
vorbildhafteres eigenes Auftreten oder durch das Meiden peinlicher
Fernsehsendungen), dass der „Fremdscham“ der Boden entzogen wird.
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