Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie, Coaching, Mediation u. Prävention
Dr. Dr. med. Herbert Mück (51061 Köln)

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Fremdscham - Fragen und Antworten

 


Frage: Manche Menschen schämen sich, wenn jemand anderem etwas Peinliches widerfährt. Manche nennen dies „Fremdschämen“. Warum schämt sich jemand für einen anderen?

Dr. Mück: Soweit ich das beurteilen kann, haben sich Wissenschaft und Praxis noch nicht durchgerungen, „Fremdscham“ als eigenständiges und von herkömmlicher Scham zu unterscheidendes Gefühl anzusehen. Davon abgesehen gibt es mittlerweile ausreichende Erkenntnisse aus der Hirnforschung, die uns vorstellbar machen, wie es im Gehirn zu solchen Vorgängen wie einer „Fremdscham“ kommen kann. Wir wissen heute, dass es in unserem Gehirn sogenannte Spiegelnervenzellen („Spiegelneurone“) gibt, die sowohl dann aktiv werden, wenn wir etwas Bestimmtes selbst tun, oder wenn wir nur beobachten, wie ein anderer Entsprechendes vornimmt. Der Tatsache, dass in beiden Fällen genau die gleichen Zellen in uns die jeweilige Information verarbeiten, macht verständlich, warum wir uns in andere Menschen (mehr oder weniger gut) einfühlen können. Anders ausgedrückt: Unsere Gehirnzellen spielen innerlich nach bzw. simulieren, was wir gerade beobachten, so als würden wir das Beobachtete selbst vornehmen. Wenn unsere Aufmerksamkeit also auf jemanden gerichtet ist, dem gerade Peinliches widerfährt, vermittelt uns unser Gehirn sofort eine Vorstellung davon, wie sich so etwas für uns selbst anfühlen würde. Die Psychologie würde in diesem Fall auch von „Identifikation“ sprechen.  

Da unser Gehirn nur „simuliert“, was sich im Inneren einer beobachteten Person gerade abspielen könnte, können wir „Fremdscham“ auch dann spüren, wenn der Beobachtete selbst keinerlei Scham empfindet, er beispielsweise gar nicht merkt, in welches Fettnäpfchen er gerade getreten ist. Ein klassisches Beispiel wäre eine Situation im Ausland, wo ein Deutscher beobachtet, wie sich ein anderer Deutscher sichtlich daneben benimmt. Ein weiteres Beispiel für Fremdscham liefert der Fernsehzuschauer, der massive Scham spürt, während er am Bildschirm miterlebt, wie ein Moderator seinen Studiogast in ausweglos peinliche Situationen bringt. Bei beiden Beispielen ist denkbar, dass sich die vordergründig wahrgenommene „Fremdscham“ zusätzlich mit Scham über die eigene Person paart. So könnte sich im Auslandsbeispiel der Beobachter auch dafür schämen, dass er mit dem sich peinlich verhaltenden Landsmann die Nationalität teilt, so dass er selbst von anderen dem Bild der „typisch Deutschen“ zugerechnet werden könnte (ähnlich wie sich Eltern schämen, wenn sich ihre Kinder in die Öffentlichkeit daneben benehmen). Außerdem könnte er sich für sich selbst schämen, weil er die Situation nur beobachtet hat und nicht mutig eingeschritten ist, um die Situation „zu retten“. Der Fernsehzuschauer könnte sich zusätzlich zur erlebten Fremdscham auch deswegen selbst schämen, weil ihm bewusst wird, dass er „es offenbar nötig hat, sich solche peinliche Sendungen anzusehen“. Vielleicht wird ihm in Form der Scham auch bewusst, dass er letztlich solche Sendungen fördert, indem er sie sich immer wieder anschaut, statt auf weniger peinliche Programme zu wechseln („Abstimmung per Fernbedienung“). Kurzum: Häufig dürfte bei „Fremdscham“ immer auch eine Portion „Eigenscham“ mitspielen. Dies wird den Betroffenen nur nicht bewusst, weil der die „Fremdscham“ hervorrufende Vorgang viel spektakulärer erscheint als das eigene Verhalten.

Frage: Welche Menschen sind anfällig für Fremdscham? (d.h. gibt es Menschen, die dafür stärker anfällig sind als andere und wenn ja warum?)

Dr. Mück: Neigung (Interesse) und Fähigkeit, andere Menschen wahrzunehmen und sich mit diesen gegebenenfalls zu identifizieren, sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark ausgeprägt. Ich vermute, dass vor allem solche Personen zu Fremdscham neigen und darunter leiden, denen in der Kindheit nicht die Fähigkeit vermittelt wurde, ausreichend genau zwischen eigenen und fremden Gefühlen zu unterscheiden. Die jeweiligen Bezugspersonen haben nicht vorgeführt, wie man darauf achtet, wo ein Gefühl zu lokalisieren ist und wie man auf eigene und fremde Gefühle reagieren kann („Emotionskompetenz“). In der Folge werden die bei anderen wahrgenommenen oder vermuteten Gefühle dann immer wieder mit eigenen vermengt, weil dem Gehirn – mangels Vorbild – eine innere Instanz fehlt, die solche Unterscheidungen vornehmen könnte. Um „Fremdscham“ zu spüren, muss man generell für Scham empfänglich sein. Wer sich vermehrt schämt, weil er in seinem Leben bedeutsame beschämende Erfahrungen machen musste, ist sicher auch vermehrt für das Erleben von „Fremdscham“ anfällig. Wie schon erwähnt, versucht unser Gehirn, das innerlich „nachzuspielen“, was wir bei anderen beobachten. Dafür braucht unser Gehirn genügend vorausgegangene Erfahrungen, um mit deren Hilfe die Simulation („innere Hochrechnung“) durchzuführen. Wer viele Erfahrungen mit Scham gemacht hat, bei dem wird das Gehirn, bereitwillig und häufig Simulationen (in Form von „Fremdscham“) zur Verfügung stellen, wenn es glaubt, im Verhalten eines anderen Menschen genügend Hinweise für „Peinliches“ gefunden zu haben.

Frage: Ist Fremdschämen schädlich? Muss ich mir Sorgen machen, wenn ich mich intensiv fremdschäme?

Dr. Mück: Wenn sich jemand in herkömmlicher Weise sehr schämt, hat er oft ein schwaches Selbstbewusstsein und neigt dadurch zu psychischen Problemen, wie etwa einer sozialen Phobie (Vermeiden des prüfenden Blicks anderer) oder einer Depression. Bei einer „Fremdscham“ scheinen solche Konsequenzen auf den ersten Blick weniger wahrscheinlich. „Fremdscham“ wird in aller Regel aber nicht isoliert auftreten, sondern setzt ein ausreichend starkes generelles Schamempfinden voraus. Wenn jemand „verstärkt“ unter „Fremdscham“ leidet, ist sein Hauptproblem daher wohl eher darin zu sehen, das der Betreffende überhaupt zu vermehrter Scham neigt. Dem Schämen an sich und weniger der Fremdscham sollte dann die Hauptaufmerksamkeit gelten. Wie alle Gefühle hat auch die Fremdscham einen Mitteilungscharakter: Fast immer zeigt sie an, dass sich unsere Vorstellungen davon, wie sich Menschen verhalten sollten (uns selbst eingeschlossen) nicht mit unseren aktuellen Beobachtungen und Erfahrungen decken. In einem solchen Fall sollte man sich weniger Sorgen über die Gefahren des „Fremdschämens“ machen. Vielmehr sollte man sich fragen, ob man das eigene Verhalten nicht so verändern kann (etwa durch vorbildhafteres eigenes Auftreten oder durch das Meiden peinlicher Fernsehsendungen), dass der „Fremdscham“ der Boden entzogen wird.