Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie, Coaching, Mediation u. Prävention
Dr. Dr. med. Herbert Mück (51061 Köln)

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Umgang mit Nacktheit (Schamlosigkeit)


Interview der Zeitschrift „Jolie“ mit Dr. Dr. med. Herbert Mück, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Köln, am 03.01.2014
Auszüge erscheinen in Heft 3/2014

Ist Nacktsein nur gewöhnungsbedürftig?

Ab wann man sich „nackt“ fühlt, ist relativ zu sehen und erfordert nicht immer das komplette Ablegen von Kleidung. In Kulturen, in denen Menschen von Geburt an, sich ganz selbstverständlich (auch) nackt bewegen, bedarf es keiner „Gewöhnung“. Vermutlich ist Nacktsein für Kulturen, die in wärmeren Gegenden der Erde beheimatet sind, der natürliche Grundzustand. Allerdings kann es in solchen Kulturen sein, dass man sich „nackt“ fühlt, wenn ein winziges Accessoire fehlt (wie etwa eine um die Hüfte getragene Schnur bei manchen traditionellen Kulturen). Dagegen bedarf es für Menschen aus Kulturen, in denen Nacktsein kulturell verpönt ist, mit Sicherheit einer längeren Umgewöhnung, um sich frei und ohne Unwohlsein vor anderen nackt zeigen und bewegen zu können. Das gilt beispielsweise für Migranten aus Kulturen, in denen der menschliche Körper bewusst verhüllt wird. Für wen Nacktheit vor anderen tabuisiert oder ungewohnt ist, kann sich durchaus daran „gewöhnen“, wenn er oder sie dies ausreichend lange erlebt und mit angenehmen Erfahrungen verbinden kann. Wir Menschen „gewöhnen“ uns an sehr vieles: J

Sind Männer verschämter als Frauen?

Vor dem Hintergrund meiner beruflichen Erfahrungen kann ich das nicht bestätigen. Soweit man eine verallgemeinernde Antwort geben will, gehe ich davon aus, dass Männer auf Scham auslösende Situationen tendenziell anders reagieren als Frauen. Während Frauen eher betroffen zu Boden blicken, erröten und schweigen, werden Männer vielleicht vergleichsweise eher lauter oder „aggressiv“. Wenn es darum geht, Scham auslösende Situationen zu vermeiden, dürften sich beide Geschlechter wohl eher gleich verhalten. Dass Männer weniger über Gefühle kommunizieren oder mitunter wenig gesprächig sind, ist eine bekannte Tendenz. Dies darf man nicht als Ausdruck von Scham werten.

Warum ist die Nacktheit der Frau präsenter als die des Mannes?

Das liegt mit Sicherheit großenteils an unserer noch immer von Männern dominierten Werbewirtschaft, die sich an dem Prinzip orientiert „Sex sells“ und dafür den weiblichen Körper nutzt. In unserer Kultur sind Nacktheit und Sexualität mittlerweile stark verknüpft, was keineswegs immer so war (siehe die Darstellung nackter Körper in älteren Kunstwerken). Produkte (wie Zeitschriften, Filme, Kosmetika, Genussmittel), die mit nackten Körpern illustriert werden und dadurch erotisierend wirken, finden zumindest bei männlichen Kunden stärkere Aufmerksamkeit und verkaufen sich dann vermutlich auch leichter. Neuerdings setzen einige Frauen Nacktheit auch selbst als Mittel ein, um auf politische Themen aufmerksam zu machen („Femen-Bewegung“). Sie nutzen damit gezielt, den – zumindest in der Öffentlichkeit - noch immer Aufmerksamkeit erweckenden Effekt von Nacktheit (insbesondere des weiblichen Körpers).

Wie definieren Sie das Wort „Scham“ und wie gehen wir Deutschen mit Nacktheit um?

Scham ist ein soziales Gefühl. Sie reguliert (teilweise durch sozialen Anpassungsdruck) menschliches Zusammenleben und verhindert, dass Mitglieder einer Gemeinschaft „herausfallen“. Wer sich abgelehnt ("ungeliebt", ungewollt oder isoliert) fühlt, reagiert daher oft mit Scham. Scham ist häufig mit dem Erleben verbunden, „anders“ zu sein (von der Norm abzuweichen). Am liebsten möchte er oder sie sich verbergen. Dabei kommt es häufig zum Erröten. Aus Angst, (erneut) abgelehnt zu werden, gehen manche Schambetroffene lieber auf Distanz, was im Extremfall zu einer „sozialen Phobie“ führen kann. Aus meiner Sicht lässt sich nicht verallgemeinernd sagen, wie wir Deutschen mit Nacktheit umgehen. So ist beispielsweise „Freikörperkultur“ in den neuen Bundesländern eher selbstverständlich als in den alten Bundesländern. Insgesamt lässt sich wohl sagen, dass Nacktheit in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten immer weniger „spektakulär“ geworden ist. So kann man heute im Sommer nicht nur an Badeseen, sondern mitunter auch in öffentlichen Parks unbekleidete Sonnenanbeter antreffen, ohne dass dies als „Ordnungswidrigkeit“ geahndet wird. Auch in der Kunst (Theater, Performances) ist Nacktheit nichts Außergewöhnliches mehr.

Ab welchem Alter fangen wir an uns zu schämen und warum?

Um sich schämen zu können muss man in der Lage sein, eine Vorstellung von sich selbst zu haben (sich zum Beispiel im Spiegel erkennen zu können). Diese Fähigkeit setzt im Allgemeinen im Alter von 1,5 bis 2 Jahren ein. Außerdem muss sich das eigene Vorstellungsvermögen so weit entwickelt haben, dass man nachvollziehen kann, dass das eigene Verhalten oder Aussehen von „Idealvorstellungen“ (z.B. der Eltern) abweicht und dass eine solche Abweichung ungünstig ist. Auf diese Diskrepanz muss man dann in der Regel anfänglich auch noch ausreichend intensiv aufmerksam gemacht werden (wodurch die Idealvorstellung zugleich verinnerlicht bzw. verfestigt wird). Irgendwann kann man sich dann auch von selbst schämen, wenn man sich des eigenen „Ungenügens“ bewusst wird. Sind Idealvorstellungen einmal verinnerlicht, kann die Umwelt diesen Umstand nutzen, um durch entsprechende Hinweise beim Betroffenen Unwohlsein („Scham“) hervorzurufen und diesen zu anderem Verhalten zu bewegen.  Scham kann wohl auch durch Lernen am Vorbild von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.

Sollte ich meine Eltern nackt gesehen haben? (Weil ich mich dann in meinem Körper wohl fühle?)

Diese Frage wird in unterschiedlichen Kulturen vermutlich unterschiedlich beantwortet werden. Eltern sind für uns zumindest in den ersten Lebensjahren für fast alle neuen Erfahrungen die wichtigsten Vorbilder. Wenn man an ihrem Beispiel erlebt, wie unbeschwert Nacktheit gelebt werden kann, liefert dies sicher eine gute Grundlage dafür, sich mit dem eigenen nackten Körper wohl zu fühlen. Ab einem gewissen Alter nehmen dann die Einflüsse anderer Menschen („Peergoup“, Erziehungswesen, Medien) zu und modifizieren gegebenenfalls  die mit den Eltern gemachte Erfahrung. Abgesehen davon kann man sich sicher auch dann in seinem Körper wohl fühlen, wenn man seine Eltern niemals nackt gesehen hat (die Eltern aber aus dem Thema Nacktheit kein Problem machten).

Warum wollen wir es immer nackter? Zum Beispiel durch Intimrasur?

Die Annahme, dass „wir es immer nackter wollen“, kann ich in dieser Verallgemeinerung nicht nachvollziehen.  Soweit ich dies aus geschichtlicher Sicht beurteilen kann, war der Umgang mit Nacktheit im Laufe der Jahrhunderte in unserem Kulturkreis sehr unterschiedlich. Seit der „sexuellen Revolution“ Ende der 60er Jahre und mit der zunehmenden Verbreitung von Fernsehen und Internet ist die Verfügbarkeit von Bildern nackter Menschen fast grenzenlos, was aber nicht heißt, dass die Menschen dies unbedingt „wollen“. Ob „Intimrasur“ ein Ausdruck eines Bedürfnisses nach „noch mehr Nacktheit“ ist, wage ich zu bezweifeln. Intimrasur passt für mich eher in die gleiche Trend-Kategorie wie Tattoos oder Piercings, die ja auch nicht unbedingt der Betonung von Nacktheit dienen.

Warum schämen wir uns vor Freunden nackt zu sein, aber nicht vor Fremden?

Manche Menschen schämen sich durchaus vor Freunden und vor Fremden. Da Scham sehr viel mit der Angst zu tun hat, abgelehnt oder aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden, wird verständlich, warum die Scham gegenüber Freunden besonders stark sein kann: Es ist meist schmerzhafter und folgenreicher, von seinen Freunden künftig gemieden zu werden als von Fremden, denen man vielleicht nie wieder begegnet. Auch ist bei Freunden die Gefahr größer, dass ein von diesen registrierter (vermeintlicher) Makel im weiteren Verlauf zusätzlich auch noch im eigenen Freundesumfeld kommuniziert. Wenn Fremde in ihren Netzwerken darüber sprechen, ist dies für uns meist weniger bedeutsam. Denkbar ist auch, dass nackte Menschen ihren Freunden unterstellen, dass sich diese für den nackten Freund schämen und dass sie diese unterstellte Scham dann auch zu ihrer eigenen machen.

Warum ziehen sich Betrunkene so oft aus?

Alkohol enthemmt und kann in größeren Mengen das Bewusstsein trüben.  Viele Menschen nutzen gezielt den enthemmenden Effekt von Alkohol, um auf andere Menschen überhaupt zugehen bzw. diese ansprechen und sich dann im weitesten Sinne auch „entblößen“ zu können (also so zu zeigen, wie sie eigentlich sind). Außerdem stellt Alkohol die Blutgefäße der Haut weit. Dadurch können ein Gefühl von Wärme und damit auch das Bedürfnis entstehen, sich einiger Kleidungsstücke zu entledigen. Im Extremfall einer Verwirrung („Rausch“) kann es vorkommen, dass die Betroffenen ihre Situation vollkommen verkennen und glauben, sich durch Entkleiden angemessen und zielführend zu verhalten.

Ab wann ist man Exhibitionist, wann nur freizügig?

Darüber entscheiden die innere Einstellung, die begleitende körperliche Reaktion und die äußeren Umstände, wobei sich die Frage meist nur bei Männern stellt. Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob man sich auf einem FKK-Stand, in einer Sauna oder aber in der Straßenbahn oder in der Fußgängerzone entblößt. Auf dem FKK-Strand und in der Sauna wird das Entblößen erst dann „exhibitionismusverdächtig“, wenn es zu einer sichtbaren Erregung kommt (steifer Penis). Einen „Exhibitionismus“ kann man in solchen Fällen aber nur dann unterstellen, wenn es dem Betreffenden darauf ankommt, durch sein Verhalten auf andere Menschen (z.B. schockierend) einzuwirken. Letzteres ist bei einer unbeabsichtigten Erregung in den genannten Situationen nicht der Fall. Wer sich in der Straßenbahn oder in der Fußgängerzone lediglich entblößt (etwa um für oder gegen etwas zu protestieren) und dabei keine sexuelle Erregung  zeigt, der gilt zumindest im strafrechtlichen Sinne nicht als Exhibitionist.

Oft hört man den flapsigen Kommentar „Immer ziehen sich nur die Hässlichen aus!“. Mal abgesehen davon, dass das politisch unkorrektes  Schubladendenken ist: Ist das irgendwie psychologisch begründbar? Sind weniger eitle Leute am Ende mehr im Reinen mit ihren Körpern?

Betrachtet man die Titelseiten von Illustrierten oder manche Szenen in Spielfilmen kann man keineswegs sagen, dass sich „immer nur die Hässlichen ausziehen“. Politisch unkorrekt ist auf jeden Fall die Unterstellung, dass es überhaupt „hässliche Menschen“ gibt. Solche Aussagen sind nicht nur „politisch unkorrekt“, sondern „menschenverachtend“. Richtiger wäre zu sagen, dass fast alle Menschen in irgendeiner Weise vom jeweiligen kulturell geprägten Schönheitsideal abweichen. Sollten sich die „Abweichler“ bereitwilliger entkleiden, liegt dies vielleicht daran, dass solche Menschen sich nicht mehr dem gesellschaftlichen Schönheitsideal unterwerfen, sondern eine gelassene, vielleicht sogar wertschätzende Haltung gegenüber ihrem natürlichen Körper einnehmen. Wer sich körperlich noch als „hässlich“ empfindet, dem kann fast sogar geraten werden, sich ausreichend oft auf FKK-Stränden oder in Saunen zu bewegen, um zu erleben, dass dort fast alle Menschen vom herrschenden Schönheitsideal abweichen, wobei die „Nackten“ in ihrem Äußeren offenbar kein so großes Problem mehr sehen.