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Möglichkeiten telematischer Anwendungen in der
Psychotherapie im Praxisalltag - Hindernisse und Erfahrungen
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Zusammenfassung eines Vortrags, am
gehalten 13.11.2008 im Rahmen des Workshops "Online-Beratung in der
Psychiatrie und Psychotherapie. 13.11.2008 in Köln |
Obwohl in Deutschland
immer mehr Menschen „online“ sind und große Teile der Bevölkerung täglich
das Internet nutzen, scheint „Online-Beratung“ in Psychiatrie und
Psychotherapie nach wie vor kein sonderlich bedeutendes Thema zu sein.
Abgesehen von einigen wenigen Modell-Projekten wird die Online-Beratung
von den beiden Fachdisziplinen zumindest öffentlich nicht sonderlihc
Rahmen diskutiert.
Dafür zeichnen mit großer
Wahrscheinlichkeit die derzeitigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
verantwortlich, von denen sechs beispielhaft genannt seien:
- die Ärztliche Berufsordnung
Nordrhein (ähnlich „Musterberufsordnung“), wo es in § 7 (3) heißt:
„Ärztinnen und Ärzte dürfen individuelle ärztliche Behandlung,
insbesondere auch Beratung, weder ausschließlich brieflich noch in
Zeitungen oder Zeitschriften noch ausschließlich über
Kommunikationsmedien oder Computerkommunikationsnetze durchführen.“
Etwas großzügiger heißt es in § 5 (5) der Musterberufsordnung für
psychologische Psychotherapeuten:
„Psychotherapeuten erbringen psychotherapeutische Behandlungen im
persönlichen Kontakt. Sie dürfen diese über elektronische
Kommunikationsmedien nur in begründeten Ausnahmefällen unter Beachtung
besonderer Sorgfaltspflichten durchführen. Modellprojekte, in denen
psychotherapeutische Behandlungen ausschließlich über
Kommunikationsnetze durchgeführt werden, bedürfen der Genehmigung durch
die Kammer und sind zu evaluieren.“
- Gesetzliche und private
Gebührenordnungen (EBM2000plus bzw. GOÄ) sehen bis heute KEINE
Abrechnungsmöglichkeiten für Online-Beratungen vor.
- Manche „Gutachter“ lehnen vor allem
Therapieanträge für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ab,
wenn diese auf die Nutzung einer zusätzlichen Email-Beratung hinweisen.
Sie begründen dies damit, dass die einschlägigen Bestimmungen
Entsprechendes nicht vorsehen, die Methode selbst keine Emails kenne und
dass für ein solches Vorgehen ungenügende wissenschaftliche Evidenz zur
Wirksamkeit vorliege.
- Viele Ärzte scheuen vor unnötigen
rechtlichen und organisatorischen Problemen bei der Nutzung des
Internets zurück, zumal bis vor kurzem rigorose Regelungen galten, die
eine Vernetzung des Praxiscomputers mit dem Internet erschwerten.
Außerdem sind mit dem erforderlichen Datenschutz erhöhte Kosten
verbunden, die sich vermutlich allein durch Online-Beratung nicht decken
lassen. Nicht zuletzt lassen auch ständige „Warnmeldungen“
zurückschrecken, die bei formal fehlerhaften Verhalten im Internet
kostspielige „Abmahnungen“ in Aussicht stellen.
- Viele Ärzte sehen keinen Sinn darin, in
einer oft angespannten wirtschaftlichen Situation eine weitere
unwirtschaftliche und aufgrund datenschutzrechtlicher Bestimmungen
komplizierte Baustelle zu eröffnen. Schon jetzt leiden fast alle Ärzte
unter den ständig zunehmenden Dokumentations- und
Weiterbildungspflichten sowie den laufend sich verändernden
gebührenrechtlichen Bestimmungen.
- Die Abrechung von „Online-Beratung“ lädt
zu einer komplizierten „Gebührenakrobatik“ ein. Denn in der Gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) gibt es keine „Gebührenziffer“ für
Internetleistungen, sondern zunehmend nur noch Pauschalen (mit denen
dann ggf. solche Zusatzleistungen abgegolten wären). Es bleibt daher nur
übrig, mit GKV-Patienten von ihnen selbst zu finanzierende sog.
IGEL-Leistungen zu vereinbaren. Dies führt aber unter wirtschaftlichen
Gesichtspunkten zu Ungerechtigkeiten (ärmere Menschen könnten sich
Online-Beratung nicht leisten). Außerdem würde der zusätzliche
Erklärungsbedarf den Beginn einer Therapie unnötig komplizieren.
Weiterhin dürfte es häufig schwierig sein abzugrenzen, wann eine
Beratung als GKV-Leistung geschuldet und wann als sie IGEL-Leistung zu
betrachten ist. In der privaten Krankenversicherung gibt es zumindest
eine auch auf Telefonberatungen anwendbare Ziffer, die sich ggf.
„analog“ auf Emailberatungen wenden lässt. Mitunter muss dies mit der
jeweiligen Versicherung verhandelt werden. Eine andere Möglichkeit
besteht darin, den Gebührensatz für reguläre psychotherapeutische
Leistungen mit der Begründung anzuheben, dass damit auch die
Online-Beratung abgegolten wird. Das wird am ehesten bei
Verhaltenstherapien Aussicht auf Erfolg haben. Es gibt zur Anwendung von
modernen Medien in der Psychotherapie offenbar keine einheitliche Praxis
bei den Privatversicherern bzw. deren Gutachtern.
Da keine oder nur wenige
wissenschaftliche Studien zur Online-Beratung in Einzelpraxen vorliegen,
kann vorerst nur auf „Erfahrungen“ zurückgegriffen werden. Die Erfahrungen
des Autors beruhen auf mittlerweile siebenjähriger Online-Beratung, von
der rund 200 Patienten Gebrauch machten. In diesem Zeitraum kam es zu rund
16.000 Email-Kontakten, von denen rund zwei Drittel auf Schreiben der
Patienten und ein Drittel auf Antworten des Therapeuten entfielen. Dabei
zeichnete ein Viertel der Klienten (n = 49) für rund 90 Prozent der
Email-Kontakte verantwortlich. Die „Extremfälle“ (10 Prozent) lösten im
Einzel 200 bis 600 Kontakte aus. Bei den „Spitzenreitern“ der Email-Nutzer
waren allem folgende Diagnosen am häufigsten vertreten: Depression,
Borderline-Störung, Essstörung, posttraumatische Belastungsstörung,
narzisstische Persönlichkeitsstörung sowie Angststörungen.
Alle Patienten stand die
Email-Beratung als Teil der vom Autor entwickelten „internetgestützten
Psychotherapie“ (IP) zur Verfügung. Für diese gilt:
- IP befasst sich als „Therapie“ mit der
Behandlung von „Krankheiten“. Sie wird im Rahmen der ärztlichen
Berufsordnung, der Psychotherapie-Richtlininen sowie der existierenden
Gebührenordnungen auf der Grundlage anerkannter Therapieverfahren
ausgeübt.
- IP hält sich an die Regel, dass
„Ferndiagnosen“ und „Ferntherapien“ nicht gestattet sind und eine
ausschließliche Online-Beratung verboten ist.
- IP sieht ihren unverzichtbaren Kern in
der personalen Begegnung (Interaktion) zwischen Therapeut und Patient.
- IP betrachtet eine ausreichend gute
„therapeutische Beziehung“ als unverzichtbare Grundlage des
psychotherapeutischen Heilungs- bzw. Entwicklungsprozesses.
- IP nutzt Möglichkeiten des Internets zur
Optimierung der Behandlung und der therapeutischen Beziehung
(insbesondere in der Phase zwischen zwei Begegnungen).
- IP ergänzt sinnvoll die Angebote der
anerkannten Therapieverfahren, ohne diese zu ersetzen.
IP ist als Begriff nicht geschützt und entbehrt bislang offizieller
Akzeptanz.
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Der idealtypische Ablauf einer
internetgestützten Psychotherapie ist dem oben stehenden Schema zu
entnehmen. Eine Online-Evaluation (n
= 417) bescheinigt der Praxis-Website mit ihren psychoedukativen
Angeboten, dass diese von den Website-Besuchern in über 80 Prozent als
„sehr hilfreich“ erlebt werden. Ähnliches spiegelt sich in 165
Spontanzuschriften zur Website wider, die beim Autor im Zeitraum von
1/2005 bis 11/2008 eintrafen.
In einer offen gehaltenen Befragung von 33
Intensiv-Nutzern des Online-Beratungsangebots benannten diese unter
anderem folgende als hilfreich erlebte Aspekte:
- Leichte und anonyme Kontaktaufnahme
- Herstellung von „Beziehung“ und Aufbau
von Vertrauen schon im Vorfeld des ersten Treffens
- Gefühl, zwischen den Sitzungen nicht
alleine gelassen zu sein
- Rasche Verfügbarkeit von Hilfen in
Krisensituationen
- Förderung von Motivation zwischen den
Sitzungen (am Thema bleiben)
- Leichte und entspannte Möglichkeit der
Selbstmitteilung, weniger Scham
- Schreiben hält dazu an, präsiser zu
formulieren (auf den Punkt bringen)
- Dokumentation der eigenen Entwicklung,
Möglichkeit zum Nachlesen
- Optimierung der Therapiesitzungen durch
Vor- und Nachbereitung
- Wirtschaftlichkeit: größere
Sitzungsabstände, weniger Anfahrten, Datenerhebung außerhalb der
Sitzungen
- Vertiefende Informationen auf der
Praxis-Website
- Weniger „Erzähldruck“ in der Sitzung,
dadurch raschere Konzentration auf Lösungen, Übungen bzw. die
therapeutische Situation
- Das Wissen, dass die Zeilen gelesen
werden (anders als bei einem Tagebuch) tut gut (der Patient erlebt sich
wahrgenommen, fühlt sich gehört)
- Angenehmes Gefühl dauerhafter
Verbundenheit („Telepräsenz“)
- Zur Verfügungstellung einer „äußeren
Struktur“: Äußerer Ansporn durch Nachfrage und Kontrolle
- Gefühl, der einzige zu sein, auf den
sich der Therapeut konzentriert
- Möglichkeit, spontan Emotionen
mitzuTEILEN
- Begleitung während Klinikaufenthalten
- Weniger Gelegenheit „zu verdrängen“
- Tieferer Einblick in den Patientenalltag
und momentane Gefühle des Patienten
Alle 33 Stellungnahmen sind auf der
Praxis-Website veröffentlicht:
http://www.dr-mueck.de/HM_Innovationen/Internettherapie/Internettherapie.htm
2005 wurden die bis dahin vorliegenden 22
Stellungnahmen separat ausgewertet:
http://www.praxisforschung.de/2005/Internettherapie_Einleitung.htm
An einer Untersuchung des Autors
beteiligten sich 200 seiner Patienten und beurteilten retrospektiv die
Wirkungen ihrer Psychotherapie. Dabei machten sie Angaben zu ihren
Befindlichkeiten zu drei Zeitpunkten (Beginn der Therapie, Ende der
Therapie, 1 Jahr nach der Therapie). Zahlreiche Parameter besserten sich
eindrucksvoll (um ca. 2 Schulnoten), insbesondere sank die Zahl der
jährlichen Hausarztbesuche drastisch (um rund 50 Prozent). Der Effekt
blieb vom Ende der Therapie bis zum Zeitpunkt der Befragung stabil, wobei
die Zahl der Hausarztbesuch nach Ende der Therapie weiter sank. Diese
Effekte waren in der Gruppe der Patienten aus der Vorinternet-Epoche und
in der Gruppe IP-behandelter Patienten ähnlich stark. Allerdings
tendierten in der IP-Gruppe mehr Parameter dazu, sich auch nach Abschluss
der IP weiter zu verbessern. Möglicherweise wirkt IP also nachhaltiger.
Aus der Sicht des Beratungsanbieters lassen
sich nach sieben Jahren praktischer Erfahrung folgende Erkenntnisse bzw.
Empfehlungen festhalten:
- Website und Emails optimieren das
Matching von Klient und Therapeut.
- Website und Emails setzen den
Therapieprozess bereits während der Wartezeit auf den Therapieplatz in
Gang und fördern den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses schon vor dem
Erstgespräch.
- Emails und Website sind
Zusatzangebote. Sie können NIE die reale Begegnung ersetzen, sondern
immer nur diese ergänzen!
- Auch IP hat sich dem Patienten
anzupassen und nicht umgekehrt.
- Emails erleichtern organisatorische
Abläufe und deren verbindliche Dokumentation (weniger Missverständnisse,
„Absicherung“), sie entlasten die Therapiesitzung von Formalitäten.
- Viel hilft nicht viel und nicht
jeder Patient zieht aus den gleichen Angeboten auch den gleichen Nutzen.
Vorsicht: „Suchtgefahr!“
- Email-Kontakte halten bei größeren
Sitzungsabständen und insbesondere auch räumlicher Distanz den
therapeutischen Prozess am Laufen.
- IP fördert eindeutig die
therapeutische Beziehung. Vermehrten Nutzen ziehen daraus vermutlich vor
allem unsicher gebundene Personen (wobei die Häufigkeit des Kontakts
hier leicht „ausartet“): virtuelle „Dauerpräsenz“.
- Eine eindeutige Stärke von
Email-Kontakten ist die Möglichkeit, rasch aufeinander zu reagieren,
ohne sich auf gemeinsame Zeitfenster (wie beim Telefonieren) festlegen
zu müssen. Über die Priorität der Beantwortung entscheidet der
Therapeut, es gibt keinen „Warteschlangen-Stress“.
- Über Email-Kommunikation können
sich manche Patienten anders (reflektierter!) mitteilen als im
Face-to-Face-Kontakt, wo sich offenbar aufgrund entsprechender Trigger
schneller Übertragungen einstellen und die Patienten dann eher in
Ressource-ärmere Zustände wechseln.
- Die meisten Patienten erwarten
keine extensiven Ausführungen in Emails. Wichtig scheint Ihnen,
überhaupt und ausreichend rasch eine Reaktion zu erhalten und in ihren
Nöten wahrgenommen zu werden.
- Die Regeln des „Email-Verkehrs“
müssen (!) unbedingt im Vorfeld klar vereinbart werden, sonst entstehen
unnötige Konflikte, fehlt den Patienten ein gesundes Maß, werden
Wartezeiten als bedrohliches Loch empfunden und droht dem Therapeuten
rasch ein Burnout.
- Konflikte und strukturelle
Defizite, die den Patienten zu einer Therapie bewegen, „inszenieren“
sich meist auch rasch im Email-Verhalten. Die mit Emails eröffnete
Dokumentationsmöglichkeit erleichtert es, dieses Verhalten dem Patienten
zu veranschaulichen.
- IP beschleunigt nicht unbedingt die
Entwicklung, da Entwicklung Zeit braucht. Sie gestattet jedoch größere
Sitzungsabstände und begünstigt möglicherweise nachhaltigere Ergebnisse.
Ob sie wirtschaftlicher ist, erscheint aufgrund eigener Untersuchungen
fraglich
- Das Kommunikationsverhalten sollte
sich am Konzept der „Feinfühligkeit“ orientieren sowie „gewaltfrei“ und
möglichst wertschätzend sein.
- IP zieht vor allem solche Patienten
an, die aus ihr besonderen Nutzen ziehen. Dementsprechend ist die
Klientel eher jünger und gebildeter (dadurch auch eher privat
versichert).
- Email-Kommunikation zwischen zwei
Therapie-Sitzungen erleichtert es, diese auf einer Metaebene zu
reflektieren und damit das Einnehmen exzentrischer Positionen zu üben.
- Es ist weiterhin schwierig, bei
Versicherungsträgern Akzeptanz für IP zu finden. Während private
Krankenkassen mitunter eine Abrechnung über „Analogziffern“ oder eine
begründete Erhöhung des „Steigerungssatzes“ akzeptieren, scheitert IP in
der GVK am Fehlen von Abrechnungsmöglichkeiten. Sie kommt allenfalls als
IGEL-Angebot zum Tragen. IP ist daher bislang in Deutschland überwiegend
unwirtschaftlich.
- Gebotene Datenschutzmaßnahmen
sollten Spontaneität und Wirtschaftlichkeit des Online-Datenflusses
nicht behindern.
Online-Beratung erfordert auf Seiten des
freiberuflichen Anbieters (Einzelpraxis) sehr viel Selbstdisziplin, um das
eigene Engagement nicht ausufern zu lassen. Dafür wäre es hilfreich, wenn
sich Anbieter von Online-Beratung in Qualitätszirkeln zusammentun und sich
gegenseitig Intervision anbieten würden. Momentan scheitert letzteres noch
daran, dass es offenbar noch zu wenige Anbieter gibt, die sich zudem
untereinander noch nicht kennen.
Autor: Dr. Dr. med. Herbert Mück
Facharzt für Psychosomatische Medizin & Psychotherapie
Lehrbeauftragter an der Europafachhochschule Fresenius, Köln
Pattscheider Weg 29
51061 Köln
Email:
kontakt@dr-mueck.de
Internet:
www.dr-mueck.de
www.praxisforschung.de
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