von Dr. Dr. med. Herbert Mück (Köln)
Begleitskript zum Vortrag auf dem 102. Augsburger Seminarkongress
(25.09.2011)
Der hier
zusammengefasste Beitrag skizziert in möglichst praxisnaher Form die
vielfältigen Fragestellungen und möglichen Interaktionen, die sich aus
der Begegnung und dem Zusammenwirkungen von Sport und Depression als
zwei unterschiedlichen „Erlebnis- und Erfahrungsfeldern“ ergeben können.
Vorbemerkung zur Begrifflichkeit
Unter
wissenschaftlichen Gesichtspunkten ist zu berücksichtigen, dass es sich
bei „Sport“ und „Depression“ um „Konzepte“ (bzw. Konstrukte) handelt,
die kulturell abhängig sind. So sind heute in Studien aufgenommene
Patienten mit einer „depressiven Episode“ nicht unbedingt vergleichbar
mit vor 30 Jahren zu ähnlichen Fragestellungen untersuchten Patienten
mit „endogener Depression“ oder „lavierter Depression“. Auch die
Vorstellungen darüber, was unter „Sporttreiben“ oder „körperlicher
Aktivität“ bzw. „Sporttherapie“ zu verstehen ist, können von Studie zu
Studie sehr variieren. Während z.B. im englischsprachigen Raum bei
„Therapie durch Sport“ (physical exercise) eher an klassische
Sportbetätigungen gedacht wird (wie Laufen, Fahrradfahren), beinhaltet
der Begriff „Sporttherapie“ in Deutschland zunehmend auch
psychotherapeutische Elemente („Bewegungserfahrungen“). Schon allein vor
diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum die mittlerweile große
Zahl an einschlägigen Studien keineswegs immer zu einheitlichen
Ergebnissen gelangt. Zu möglichen Verwirrungen dürfte auch beitragen,
dass Studien über „physical acitivity“ mitunter zu anderen Ergebnisse
kommen als „Studien über „physical exercise“ (wobei manchmal beide
Begriffe gelegentlich auch synonym verwandt werden). Umso mehr gilt es,
sorgfältig auf Unterschiede zu achten!
Im Umgang mit Patienten
ist zu berücksichtigen, dass deren Vorstellungen von „Depression“ stark
durch die Medienberichterstattung geprägt ist, die durchaus die gleiche
„Sportlerkrankheit“ einmal als „Depression“ und ein anderes Mal als „Burnout“
darstellen (da beiden Konzepten viele Symptome gemeinsam sind) und so
unnötige Irritationen heraufbeschwören. Vor diesem Hintergrund kann es
für den Patienten hilfreicher sein, ihm die gesellschaftlich mitunter
weniger stigmatisierende Diagnose „Burnout“ als Arbeitsbezeichnung
„anzubieten“ (sofern ein ausdrücklicher Dokumentationsbedarf besteht).
Zunehmender
„offizieller“ Konsens über den Nutzen von Bewegung in der
Depressionsbehandlung
Mittlerweile gibt es
zur Frage, ob man Bewegung zur Behandlung von Depressionen einsetzen
soll, bereits mehrere offizielle Empfehlungen. So heißt es in der im
Dezember 2009 veröffentlichen S3-Leitlinie / Nationale
Versorgungsleitlinie zur Unipolaren Depression: „Körperliches
Training kann aus klinischer Erfahrung heraus empfohlen werden, um das
Wohlbefinden zu steigern und depressive Symptome zu lindern.“( S.
143) Diese Empfehlung hat den Rang eines KKP (= Klinischen
Konsenspunktes). Ähnlich heißt es in den im Oktober
2010 von der American Psychiatric Association (APA) veröffentlichten
Practice Guidelines for the Treatment of Patients with Major Depressive
Disorder (Third Edition): „Data generally support at least a modest
improvement in mood symptoms for patients with major depressive disorder
who engage in aerobic exercise or resistance training. Regular exercise
may also reduce the prevalence of depressive symptoms in the general
population, with specific benefit found in older adults and individuals
with co-occuring medical problems.“ (S. 27). Die von der APA
angesprochene Datenlage wurde ebenfalls 2010 von der Cochrane
Collaboration analysiert, wobei sich die Wissenschaftler auf ein
Ausgangsmaterial von mittlerweile schon 144 einschlägigen
Veröffentlichungen stützen konnten. Ausreichenden wissenschaftlichen
Kriterien entsprachen davon allerdings nur 23 Untersuchungen (mit
insgesamt 903 Teilnehmern). Fasst man diese zusammen, errechnet sich
eine deutliche klinische Wirkung des Sporttreibens auf Depressionen (SMD
= -0.82). Beschränkt man sich allerdings auf die verbleibenden 3
wissenschaftlich hoch anspruchsvollen Studien (216 Teilnehmer) findet
sich nur noch ein mäßiger Effekt (SMD = -0.42). Weitere Teilauswertungen
der Cochrane Collaboration ergaben: 1. Sport wirkt bei Depressionen
vergleichbar gut wie kognitive Verhaltenstherapie (6 Studien, 152
Teilnehmer). 2. Sport wirkt vergleichbar wie Antidepressiva (2 Studien,
201 Teilnehmer). 3. Der Effekt aeroben Sporttreibens auf Depressionen
ist mäßig, aber wahrscheinlicher. Der Effekt von Krafttraining auf
Depressionen erscheint stark, dafür aber weniger gesichert. 4. Vier von
acht Studien sprechen für einen Zusammenhang dahingehend, dass eine
vorhandene Depressivität mit zunehmendem Fitnessgrad abnimmt. Und nicht
zuletzt: Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezieht sich in
ihren „Global Recommandations on Physical Activity for Health“ (2010)
auf „Evidenz“, der zufolge körperliche Aktivität auch die Häufigkeit von
Depressionen verringert.
Kurzvorstellung und
kritische Kommentierung ausgewählter bedeutsamer Einzelstudien
Anhand einiger weniger
ausgewählter Studien versucht der Vortrag kurz zu vermitteln, mit
welchen Untersuchungsansätzen Forscher mögliche Zusammenhänge zwischen
Sport und Depression überprüfen, welche methodischen Probleme sich dabei
ergeben können und zu welchen teilweise widersprüchlichen Ergebnissen
die jeweiligen Untersuchungen gelangen. So kommen Querschnittsstudien in
der „Normalbevölkerung“ häufig zu dem Ergebnis, dass Sporttreibende
weniger depressiv sind als diesbezüglich inaktive Menschen. Sie
„beweisen“ allein damit allerdings nicht, dass Bewegung vor Depressionen
schützt bzw. dass Bewegungsmangel Depressionen zur Folge hat. Denn es
ist ebenso gut denkbar, dass depressiv veranlagte Menschen gar nicht
erst mit Sporttreiben beginnen. Für eine gewisse Ernüchterung zu dieser
Fragestellung sorgt bis heute eine prospektive Studie von Moor und
Mitarbeitern (2008) an über 6.000 Zwillingspaaren. Nach deren
Ergebnissen waren Freizeitsport treibende Zwillinge nicht weniger
depressiv als ihr weniger aktives Geschwister. Außerdem schien eine
Erhöhung der „Sportdosis“ in den Folgejahren die Häufigkeit von
Depressionen nicht zu verringern. Nachdenklich stimmt auch eine Studie
von Harvey und Mitarbeitern (2010), die u.a. der Frage nachging, wie „physical
acitivity“ einerseits am Arbeitsplatz und andererseits in der Freizeit
mit Depressivität korreliert. Überraschenderweise ging nur
„Freizeitaktivität“ mit weniger Depressivität einher (und das vor allem
bei Menschen mit einem Freundesnetz und häufigeren sozialen
Unternehmungen). Hier ging schon eine mäßige Zunahme der körperlichen
Freizeitaktivität mit einem deutlichen Rückgang an Depressivität einher.
Den erwähnten Befunden
in der „Normalbevölkerung“ stehen allerdings mittlerweile prospektive
Studien an Patienten (!) mit klinisch diagnostizierter Depression
gegenüber, denen zufolge Bewegungstraining vergleichbar gut wirkt wie
ein bewährtes Antidepressivum. Die Verordnung von Sport kommt danach
nicht nur als „Zusatz-, Ergänzungs- oder Begleittherapie“ in Betracht,
sondern als äquivalente Haupttherapie. Dabei gilt ähnlich wie für
Antidepressiva, dass der Effekt im Vergleich zu Placebo zwar
„signifikant“ sein kann, in seinem Ausmaß aber eher bescheiden wirkt.
Dies illustriert in neuerer Zeit eine Studie von Blumenthal und
Mitarbeitern (2007) an 202 depressiven Teilnehmern (Durchschnittsalter:
53 Jahre). Diese unterzogen sich aufgeteilt in vier Gruppen 16 Wochen
lang entweder einem 45-minütigen Training (10 Min. Warmup + 30 Min.
Laufband + 5 Min. Cooldown) entweder (a) allein oder (b) in einer Gruppe
(supervidiert) oder (c) sie erhielten 50-200 mg Sertralin bzw. (d)
Placebo. In den Gruppen a bis c besserte sich zwar der Depressionsscore
teilweise so weit, dass die Kriterien einer Major Depressive Disorder
nicht mehr erfüllt waren (a: 40 %, b: 45 %, c: 47 %, d: 31 %). Im
Vergleich zur Placebogruppe erzielten die drei anderen Gruppen aber kein
signifikant besseres Ergebnis. Dagegen besserte sich die Belastbarkeit
in den beiden Trainingsgruppen im Vergleich zur Placebogruppe
signifikant. Bei Studien an depressiven Patienten müssen sich sowohl
Antidepressiva als auch sportliches Training der Tatsache stellen, dass
Depressionen unter Placebo durchweg eine hohe Rate von
Spontanremissionen (in den Placebogruppen). Möglicherweise kommen hier
„unspezifische Wirkfaktoren“ der „Studienbetreuung“ zum Tragen.
Zum Themenbereich
Kraftsport bei Depression sei beispielhaft auf eine Untersuchung von
Singh und Mitarbeitern (2005) hingewiesen. Sie schloss 60 depressive
Teilnehmer im Alter über 60 Jahre (60 – 85 Jahre) ein. Diese wurden
randomisiert drei Interventionsformen zugeteilt: (a) einem Krafttraining
mit 80 % bzw. (b) mit 20 % der jeweiligen Maximalkraft bzw. (c) der
üblichen Behandlung beim Hausarzt. In den sportlich aktiven Gruppen
wurde 8 Wochen lang 3 Mal pro Woche trainiert (jeweils 1 Stunde
Krafttraining + 5 Min. Stretching). Es erfolgten jeweils 3 Sets mit 8
Wiederholungen auf verschiedenen Geräten. Bei den intensiv Trainierenden
war die Rate jener deutlicher höher, bei denen sich der
HRDS-(Depressions)Score halbierte (61 Prozent) als bei den nur leicht
Trainierenden (29 Prozent) oder der Hausarztgruppe (21 Prozent).
Zwischen Kraftzuwachs und Rückgang der Depressivität fand sich ein
linearer Zusammenhang („Dosis-Wirkungs-Beziehung“). Soziale Effekte
schienen also nicht ins Gewicht zu fallen. Bei den intensiv
Trainierenden spielte es für den antidepressiven Erfolg auch keine
Rolle, wie stark oder schwach sie von ihrem Training ein positives
Ergebnis auf die Depression erwartet hatten. Dagegen war ein solcher
„Placebo-Effekt“ in der leicht trainierenden Gruppe nachzuweisen: Je
mehr ein Teilnehmer einen antidepressiven Effekt erwartet hatte, umso
deutlicher fiel dieser auch trotz der geringen Trainingsbelastung aus.
Günstige Effekte von
Bewegung und Depression auf Depressionen sind also nachweislich
bislang erst in wissenschaftlich begleiteten prospektiven Studien zu
registrieren. Es ist nicht auszuschließen, dass Rahmenbedingungen des
Sporttreibens wesentlich zu den beobachtbaren Effekten beigetragen haben
(wie vermehrte Aufmerksamkeit durch den Versuchsleiter, häufigere
Kontakte mit dem Untersucherteam oder mit anderen Mitpatienten sowie
eigene Erwartungen und Einstellungen der Teilnehmer zum Effekt des
Sporttreibens). Sport ganz alleine (also ohne betreuende „Begleitung“)
oder sogar entgegen eigener Überzeugungen zu betreiben, dürfte
vermutlich weitaus weniger günstige psychische Effekte erzielen (Cave:
Nocebo-Effekt!).
Auf welche Weise
kann Sport antidepressiv wirken?
Mittlerweile gibt es
eine Fülle von Hypothesen zu dieser Frage. Zu ihnen gehören:
- Überwiegend
psychologisch argumentierende Erklärungsansätze
1.
Die Verordnung von Sport und
Bewegung liefert einen „Erfahrungsraum“ (einen gesellschaftlich
akzeptierten Rahmen), in dem sich zusätzliche (sportunabhängige)
Wirkfaktoren entfalten können (wie menschliche Zuwendung,
Beziehungsaufbau, Interaktionserfahrungen). Sport und Bewegung gehören
damit möglicherweise zu den mächtigsten „Placebos“ überhaupt. Sie
fördern die Erwartung und unterstützen die Realisierung von
Selbstheilungsprozessen.
2.
Sport erfordert aktives (und
zugleich oft neues) Verhalten. Dies kann den Patient motivieren,
ungünstige Muster zu verlassen und gesunde Gewohnheiten einzuüben.
Zugleich erfolgt die bei Depressionen so wichtige „Aktivierung“.
3.
Depressive fühlen sich oft
eingeschlossen und Situationen hilflos ausgeliefert, was ihr Befinden
katastrophal beeinträchtigt. Die Möglichkeit, in einem solchen Fall
durch Bewegung und Sport die eigene Befindlichkeit selbst und ohne
äußere Hilfestellung verbessern zu können, eröffnet einen möglichen
Ausweg und verhilft dem Patienten zu einem Gefühl von Kontrolle über das
Geschehen. Zugleich können Bewegung und Sport mit Erfolgserlebnissen
einhergehen und damit ebenfalls Erfahrungen von Hilflosigkeit und
Ohnmacht verringern.
4.
Dem bei Depressionen häufigen
„Gefühl der Gefühllosigkeit“ kann das körperliche Erleben beim Sport
begegnen, indem es wieder oder auch erstmalig einen Zugang zum
Körpergefühl eröffnet. Dafür dürfte es wichtig sein, sich nach dem Sport
immer eine ausreichende Pause zum „Nachspüren“ einzuräumen und sich ggf.
sachkundig anleiten zu lassen.
5.
Unter sportlicher Belastung
lässt sich die Erfahrung machen, dass bislang als Krankheitssymptome
gewertete Körperreaktionen (Herzrasen, beschleunigte Atmung, Luftnot,
Schwitzen, Erschöpfung, „Muskelziehen“) völlig normale, ja gesunde
Zeichen einer „normalen Belastung“ sein können. Bei einem solchen
„Umlerntraining“ sollte man sich möglichst mit hilfreichen Gedanken
auseinandersetzen. Denn das Gehirn verbindet alles Gleichzeitige
(„Konditionierung“).
6.
Training strukturiert die Zeit
und verleiht dem Leben zusätzlichen Sinn.
7.
Viele sportliche Betätigungen
(insbesondere Mannschaftsspiele) lenken die Aufmerksamkeit auf das Hier
und Jetzt (verbesserte „Achtsamkeit“) und unterbrechen damit anhaltendes
Grübeln. Sie schaffen Inseln mentaler Ruhe.
B. Überwiegend physiologisch-biologisch argumentierende
Erklärungsansätze
8.
Bewegung hilft, innere
Erregung abzuführen. Sie verbessert den nächtlichen Schlaf, der bei
Depressiven oft beeinträchtigt ist.
9.
Ein Zugewinn an Fitness und
Kraft verbessert die Befindlichkeit (Wohlbefinden).
10.
Günstigere Haltungen und
Bewegungen (Kopf aufrichten, gerade stehen, Bleistift quer zwischen die
Zähne nehmen) wirken sich unmittelbar auf das Befinden aus, da der
Bewegungsapparat eine unverzichtbare Teilkomponente für das Erleben von
Gefühlen ist.
11.
Schon bei leichter Bewegung
(wie einem Spaziergang) steigt die Hirndurchblutung deutlich an. Auch
können sich unter sportlichem Training selbst im Gehirn neue Blutgefäße
bilden.
12.
Kognitive Störungen (z.B.
Konzentrationsstörungen) können zum Gesamtbild einer Depression
beitragen Experimentell ist belegt, dass Ausdauerbelastungen kognitive
Leistungen verbessern und somit auch unter diesem speziellen Aspekt die
depressive Symptomatik günstig beeinflussen können. Hierzu passen
Befunde, denen zufolge körperlich trainierte Gehirne bei der Auflösung
von Aufgaben weniger „Gehirnkapazität“ benötigen als untrainierte
(zitiert nach Hollmann et. 2003).
13.
Noch immer wird bei der
Diskussion der Wirkungsmechanismen darauf hingewiesen, dass der Körper
unter sportlicher Belastung vermehrt Endorphine freisetzt, die das
Wohlbefinden steigern können. Hier begegnet man jedoch regelmäßig dem
Einwand, dass es für diesen Effekt oft längerer und intensiverer
körperlicher Belastung bedarf, die bei den meisten
Depressionsbetroffenen wohl eher selten zu realisieren ist.
14.
Seit längerem vermutet man,
dass es bei Depressionen zu einer Störung im Verhältnis zwischen
Neurotransmittern im Gehirn kommt, insbesondere von Serotonin,
Noradrenalin und Dopamin. Bewegung kann nachweislich den Organismus
veranlassen, die genannten Botenstoffe vermehrt bereitzustellen.
15.
Bei Depressionen ist das
körpereigene „Stresssystem“ meist überaktiv, so dass die Signale des
aktivierenden und auf Kampf und Flucht eingestellten Sympathikus über
die Signale des beruhigenden und die Regeneration fördernden
Parasympathikus dominieren. Ausdauersport wirkt parasympathikoton und
kann die Wiederherstellung einer Balance im autonomen Nervensystem
unterstützen. So weisen depressive Menschen häufig eine verringerte
Herzratenvariabilität (HRV) auf, die sich unter einer erfolgreichen
Depressionstherapie ebenfalls bessert.
16.
Die Überaktivität des
Stresssystems von Depressionsbetroffenen geht häufig mit einer dauerhaft
(!) vermehrten Freisetzung von Cortisol im Organismus einher. Dies kann
viele ungünstige Folgen haben (wie etwa den Verlust von Nervenzellen im
Hippokampus). Forscher wie Florian Holsboer vertreten die Auffassung,
dass ein Zuviel an Cortisol wesentlich zur Entstehung und
Aufrechterhaltung von Depressionen beiträgt („Cortisolhypothese der
Depression“). Ausdauersport scheint den Cortisolspiegel im Körper senken
bzw. Cortisolerhöhungen vorbeugen zu können.
17.
Teilweise vermutet man, dass
entzündliche Prozesse an der Entstehung von Depressionen beteiligt sind.
Indem sportliche Aktivität entzündliche Veränderungen auslöst,
„trainiert“ sie antientzündliche Mechanismen, die sich dann auch im
Hinblick auf Depressionen protektiv auswirken können.
18.
Zu den heute besonders
intensiv untersuchten Erklärungsansätzen gehört die Beobachtung, dass
der Organismus unter sportlicher Belastung vermehrt sog.
Wachstumsfaktoren freisetzt, die insbesondere im Gehirn zur Neubildung
von Nervenzellen und einer besseren „Vernetzung“ (Bildung von
„Synapsen“) führen können. Im Zentrum der Forschung und des Interesses
steht BDNF (Brain Derived Neurotropic Factor), gefolgt von IGF-1 (Insulin-like
Growth Factor). Besonders im Hippokampus, der bei Depressionskranken
bzw. Stressbetroffenen oft verkleinert ist, kann es durch BDNF zur
Nervenneubildung kommen. Da Antidepressiva genau den gleichen Effekt
erzielen, vermutet man, dass Bewegung vor allem über die vermehrte
Freisetzung von BDNF antidepressiv wirken könnte. Bei depressiven
Menschen ist im Blut zu wenig BDNF vorhanden. Sportliche Belastung kann
bei ihnen zu einem raschen vorübergehenden Anstieg führen.
19.
Immer wieder finden sich
Stimmen, die einen Testosteron-Mangel für manche Depressionen
verantwortlich machen wollen. Sollte dies tatsächlich von Bedeutung
sein, könnte sportliche Aktivität auch unter diesem Gesichtspunkt an
Interesse gewinnen, körperliche Belastungen zu erhöhten
Testosteronspiegeln in Speichel und Serum führen können.
20.
Depressionen begleiten viele
chronische Erkrankungen (oft als deren Folge, mitunter aber auch als
deren Vorboten) und tragen so zu dem Gesamtkrankheitsgefühl bei. Genannt
seien hier nur die Herzkreislauferkrankungen,Diabetes, die chronisch
obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und Rückenleiden. Indem geeignete
Bewegungsprogramme das Grundleiden verringern, wirken sie vermutlich
indirekt auch abbauend auf die mit dem chronischen Leiden verbundenen
Depressionen ein.
21.
Mehrere Studien zeigen, dass
Bewegung die Effekte anderer antidepressiver Maßnahmen verstärken kann
(z.B. die Wirkung von Antidepressiva auf das Gehirn).
22.
Möglicherweise trägt die für
einige Sportarten typische „rhythmische Aktivierung“ der beiden
Körperhälften und damit auch der Gehirnhälften zu einer besseren
Informationsverarbeitung in Gehirn und Körper bei. Dem Laien sind
entsprechende Erfahrungen oft bekannt (mehr Einfälle beim Gehen oder
Laufen, klarerer Kopf durch Joggen). Auch bei Naturvölkern werden
rhythmische Rituale und Tänze zu Heilungszwecken eingesetzt.
Ernstzunehmende Hinweise auf eine verbesserte Informationsverarbeitung
im Gehirn kommen auch aus der Traumaforschung, wo mittlerweile über 20
ernst zu nehmende Studien zeigen, dass eine regelmäßig die Körperseite
wechselnde sinnliche Stimulation nicht nur die Verarbeitung psychischer
Traumata, sondern auch die Stabilisierung positiver Vorstellungen und
Entwicklungen begünstigt.
Kann Sporttreiben
oder „Sportentzug“ Depressionen fördern?
Wer in gesundem Umfang
Sport treibt, braucht Depressionen nicht zu befürchten. Bewegung ist ein
im Vergleich zu Medikamenten erfreulich „nebenwirkungsfreies“
Heilmittel, wenn sie in vernünftigem Umfang betrieben wird. Wer sein
Training übertreibt, muss allerdings mit einem „Übertrainingszustand“
rechnen, dessen Symptome gleichermaßen auch das Bild von Depressionen
gestalten (wie Konzentrations- und Schlafstörungen, Müdigkeit,
depressive Verstimmungen, Schmerzen, Appetit- und Gewichtsverlust,
Unlust). In einem solchen Fall ist eine Trainingsreduktion bzw.
-anpassung das Vorgehen der Wahl.
Wer immer intensiv
Sport getrieben hat oder für wen Sport sogar der wichtigste Lebensinhalt
war (etwa im Falle von Leistungssport), für den kann der Wegfall des
Sporttreibens durchaus Angst auslösend oder depressionsfördernd sein. In
der Regel handelt es sich in solchen Fällen nicht um „Entzugssymptome“
einer „abhängig machenden Sportart“. Meist liegen bei den Betroffenen
psychosoziale Probleme vor, die sich mit Hilfe des Sports bislang
kompensieren ließen und die (wieder) aufflammen, sobald das
Kompensationsmittel wegfällt. So mag für den einen oder anderen
Spitzensportler gelten, dass er durch sportlichen Erfolg ein schwaches
Selbstwertgefühl erfolgreich kompensiert und so eine Depression
verhindert. Solange es sich um eine bloße „Kompensation“ und nicht um
eine dauerhafte Bewältigung der genannten Probleme handelt, bleibt der
Betreffende von einem Wiederaufflammen seiner seelischen Probleme
bedroht, falls das Kompensationsmittel nicht mehr zur Verfügung steht
oder seine Wirkung verliert.
Tipps zur
Sportverordnung
Depressive Menschen zu
vermehrter Bewegung zu motivieren, ist oft eine Herausforderung. Sie
fällt leichter, wenn die Betreffenden bereits auf positive
Bewegungserfahrungen in ihrem Leben zurückblicken können und sie an die
schon vorhandene Ressource nur erinnert werden müssen (Stichwort:
Schwimmen verlernt man nicht). Ihnen hilft oft schon, wenn man ihnen
aufzeigt, wie sich ein Mehr an Bewegung in ihrem Alltag wieder sinnvoll
einbauen lässt und wie dies ggf. organisatorisch zu bewältigen ist.
Dabei sollte man möglichst an die frühere Sportart anknüpfen und – wenn
dies nicht möglich ist – eine vergleichbare empfehlen.
Sport lässt sich
insofern oft leichter verordnen als Medikamente oder eine längere
Psychotherapie, weil am generellen Nutzen des Sporttreibens
gesellschaftlich kaum noch gezweifelt wird und sich dieser Umstand
nutzen lässt. Außerdem zeigt eine Nachbefragung von Heimbeck und Hölter
(2011) bei 98 tationär behandelten depressiven Patienten, dass diese von
16 unterschiedlichen Behandlungsangeboten die „Bewegungs- und
Sporttherapie“ mit der zweitbesten Note beurteilten unter der
Fragestellung, was sie während der stationären Behandlung als besonders
hilfreich erlebt hatten.
Sehr schwierig fällt
eine „Motivierung“ oft bei weitgehend sportunerfahrenen Personen, die
sich bereits ein stabiles Argumentationssystem zugelegt haben, mit dem
sie ihren Bewegungsmangel begründen („Mir fehlt dazu die Veranlagung
oder Lust“). Solchen Menschen kann man zumindest verdeutlichen, dass
„Gene kein Schicksal“ sind und dass nach dem heutigen wissenschaftlichen
Stand („Epigenetik“) schlummernde Gene sich meist lebenslang aktivieren
lassen. Beispiel: Durch Training lässt sich nicht nur die „Figur“,
sondern auch die Zusammensetzung der Muskulatur verändern. Sog.
Motivational Interviewing ist ein möglicher Weg, Sportverweigerern zu
neuen Einstellungen zu verhelfen. Dafür ist es wichtig herauszufinden,
ob die betreffende Person zu 100 Prozent Sport ablehnt oder diesem
zumindest schon einige wenige positive Aspekte abgewinnen kann. Im
Weiteren gilt es dann, durch hilfreiche Zusatzfragen die befürwortende
innere Stimme so weit zu stärken, dass sie der bislang ablehnenden
Stimme irgendwann überlegen ist. Bei dieser Form des Dialogs überzeugt
sich der Patient letztlich selbst.
Ansonsten sollte der
behandelnde Arzt möglichst durch sein eigenes Vorbild anleiten. Er oder
sie sollte Sport als wichtiges Teilelement eines Gesamtbehandlungsplanes
darstellen (kein „Vielleicht probieren Sie es auch einmal mit Sport“),
Motivationshilfen anbieten (Beispiele anderer Patienten, Audio-CDs,
Schrittzähler) und – wie die Erfahrung mit wissenschaftlichen Studien
zeigt – immer wieder konsequent und in regelmäßigen Abständen neue
Erfahrungen mit dem Sporttreiben erfragen und positiv kommentieren („Was
man beachtet, das wächst“). Menschen, die in ihrem Leben kaum Sport
getrieben haben, sollten vorsichtig an die Hand genommen und
gegebenenfalls persönlich zum ersten Termin begleitet werden (falls
nicht sogar gemeinsames Sporttreiben möglich ist). Zumindest sollten
ihnen konkrete (!) Wege genau aufgezeigt werden, wie sie sich
sportlichem Handeln nähern können (z.B. Adressen vermitteln, etwa zu
Lauftreffs). Oft hilft es auch, persönlich für die Betreffenden in
Vereinen oder Fitnessstudios einen Termin zu vereinbaren.
Erfahrungsgemäß kann ein (konsequent geführtes!) „Trainingstagebuch“
Motivation und Disziplin fördern. Depressive Menschen werden fast
standardmäßig erwidern, dass sie schon gerne mit dem Sporttreiben
beginnen würden, allerdings würden sie noch so lange warten, bis es
ihnen dafür ausreichend besser geht. Hier gilt es so lange zu erläutern,
dass es auf den umgekehrten Zusammenhang ankommt („Sport soll gerade
dazu beitragen, dass es Ihnen wieder besser geht“), bis der Betreffende
die Zusammenhänge verstanden hat. Jedem Patienten sollte das Versprechen
abgenommen werden, wenigstens dreimal testweise zu trainieren, bevor er
sich ein abschließendes Urteil gestattet.
Da es vielen von
Depressionen betroffenen Menschen an Fitness mangelt, ist unbedingt
darauf zu achten, dass die Trainingsbelastung langsam und angemessen
gesteigert wird. Am besten sollte ein individueller Trainingsplan
aufgestellt werden, sofern der Betreffende nicht in einer fachlich
angeleiteten Gruppe trainiert, wo der Trainer darauf achtet.
Anderenfalls drohen Überforderungen und Verletzungen (z.B.
Ermüdungsbrüche ungeübter Knochen, Muskel- und Gelenkverletzungen!).
Eine sportmedizinische Untersuchung vor Trainingsbeginn ist auch bei
jüngeren Patienten mit Depression angezeigt, da sich diese aufgrund
ihrer psychischen Problematik tendenziell eher wenig bewegen und daher
mitunter weniger belastbar sind als Personen gleichen Alters. Kommt es
trotz aller Vorsicht zu Verletzungen, ist gemeinsam mit dem Betroffenen
zu überlegen, ob während der Rekonvaleszenz nicht andere Formen von
Bewegung genutzt werden können (z.B. Krafttraining mit Aussparung des
verletzten Körperteils).
Bislang sind vor allem
für Ausdauer- und Kraftsport günstige Effekte auf Angststörungen und
Depressionen wissenschaftlich belegt. Dies schließt nicht aus, dass
andere Sportarten gleichermaßen effektiv sein können. Kraft- und
Ausdauersport lassen sich nur besonders gut unter kontrollierten
Laborbedingungen untersuchen und erzeugen so viele wissenschaftliche
Publikationen (was einen verzerrten Eindruck hervorrufen kann). Bevor
man einen Patienten gegen seine Neigung zu einer „bewährten Sportart“
drängt (zu der er nicht motiviert ist), sollten vorrangig seine
sportlichen Neigungen berücksichtigt werden (sofern solche vorhanden
sind).
Sport ist immer ein
„komplexes Erfahrungsangebot“. Wie die Erfolge von „Studien“ vermuten
lassen, scheint die Begleitung durch einen Fachmann und dessen
anhaltendes Interesse am Patienten sowie die eigene Überzeugung des
Forschers vom Nutzen der vorgeschlagenen Maßnahme eine wesentliche Rolle
für den Behandlungserfolg zu spielen. Als Arzt oder Trainer gilt es, auf
solche unwesentlich unwesentlich erscheinende Einzelheiten zu achten. Wo
es möglich ist, sollten aus dem Umkreis des Patienten auch solche ihm
nahestehende Menschen einbezogen werden, die ihrerseits den Betroffenen
zu mehr Bewegung motivieren und seine Fortschritte wertschätzen können.
Für die zu empfehlende
Bewegungsdosis gilt: Soweit es möglich ist, sollte man sich täglich
vermehrt bewegen. Im Hinblick auf die „wöchentliche Gesamtdosis“ kann
man sich an den offiziellen Empfehlungen für „Gesundheitssport“
orientieren (wenigstens drei- bis fünfmal pro Woche 30 bis 60 Minuten
„Training“, das zu zwei Dritteln aus Ausdauerelementen und zu einem
Drittel aus Kraftelementen bestehen sollte, inklusive Dehnübungen).
Ungeübte sollten mit deutlich geringerem Pensum einsteigen, wobei dieses
dann schrittweise gesteigert wird. Mehrere Studien sprechen für einen
Dosis-Wirkungs-Effekt, demzufolge intensiveres Training (insbesondere
Krafttraining) nicht nur die Fitness erhöht, sondern auch Depressivität
deutlicher verringern kann als weniger intensives Training.
Die Einhaltung der
genannten Bewegungsempfehlungen allein sollte nicht in falsche
Sicherheit wiegen: Mehrere Studien (zuletzt Stamatakis und Mitarbeiter
2011) deuten an, dass Sport und Bewegung unter den Aspekten allgemeine
Mortalität und kardiovaskuläre Erkrankungen nicht gegen den
eigenständigen Risikofaktor „langes Sitzen in der Freizeit“ schützen!
Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass langes Sitzen (was
bei schwereren Depressionen oft der Fall ist) auch den Effekt von Sport
und Bewegung auf Depressionen modifizieren könnte.
Wie viele Studien
belegen, schließt die Anwendung von Antidepressiva gleichzeitigen Sport
nicht aus. Vielmehr scheint Bewegung den günstigen Einfluss von
Antidepressiva auf die Zellneubildung im Gehirn zumindest im
Tierexperiment sogar zu verstärken. Riskante Sportarten, bei denen
Antidepressiva das Reaktionsvermögen beeinträchtigen können, sollten
depressive Menschen ohnehin nicht ausüben (mangelnde
Konzentrationsfähigkeit, Verlangsamung, Suizidgefahr!).
Vermehrte bzw. tägliche
Bewegung sollte allein schon aus allgemein gesundheitlichen Gründen
lebenslang auch dann fortgeführt werden, wenn eine Depression
abgeklungen ist. Bei Depressionen ist es heute selbstverständlich, dass
das bis dahin angewandte Antidepressivum auch nach dem Verschwinden der
Depression noch über eine ausreichend lange Zeit als
„Erhaltungstherapie“ eingenommen wird (bei wiederkehrenden Depressionen
mitunter sogar auf Dauer). Sollte es zu einem Rückfall kommen, kann man
davon ausgehen, dass das, was einmal gewirkt hat, vermutlich erneut
greifen wird.
Zitierte Literatur:
1.
American Psychiatry
Association: Practice Guideline for the Treatment of Patients with Major
Depressive Disorder. Third Edition. 2010.
http://www.psychiatryonline.com/pracGuide/pracGuideTopic_7.aspx
2.
Blumenthal, J. A. : Exercise
and pharmacotherapy in the treatment of major depressive disorder.
Psychosomatic Medicine 69: 587-596 (2007)
3.
Heimbeck et al.:
Bewegungstherapie und Depression – Evaluationsstudie zu einer
unspezifischen und einer störungsorientierten bewegungstherapeutischen
Förderung im klinischen Kontext.
Psychother. Psych. Med. 61: 200-2007 (2011)
4.
De Moor, M. H. M. et al.:
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symptoms of anxiety and depression. Arch. Gen. Psychiatry 65: 897-905
(2008)
5.
Harvey, S. B. et al.: Physical
activity and common mental disorders. The British Journal of Psychiatry.
197: 357-364 (2010)
6.
Hollmann, W. et al.:
Körperliche Aktivität fördert Gehirngesundheit und – leistungsfähigkeit.
Übersicht und eigene Befunde. Nervenheilkunde 22: 467-474 (2003)
7.
S-3 Leitlinie / Nationale
Versorgungsleitlinie Dezember 2009.
http://www.depression.versorgungsleitlinien.de/
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randomized controlled trial of high versus low intensity weight training
versus general practitioner care for clinical depression in older
adults. Journal of Gerontology Medical Sciences 60A: 768-776 (2005)
9.
The Cochrane Collaboration.
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10.
World Health Organization:
Global Recommandations on Physical Activity for Health. (2010).
http://www.who.int/dietphysicalactivity/factsheet_recommendations/en/index.html
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