Deutschland. Eine einstündige
Ganzkörpermassage verbessert im Vergleich zu Entspannungs- und
Wahrnehmungsübungen das Befinden depressiver Patienten signifikant.
Besonders „globale Angespanntheit“, Unruhe, depressive Stimmung und
Nacken-/Schulterverspannungen profitieren von der physiotherapeutischen
Intervention. Alle genannten Effekte treten unmittelbar ein. Da
Antidepressiva mitunter mehrere Wochen benötigen, um ihre Wirkung zu
entfalten, bieten sich Ganzkörpermassagen zumindest anfänglich als
Zusatzbehandlung an. Sie erfordern keine Spezialausbildung und können
daher auch von Laien (Freunden, Bekannten, Familienangehörigen)
verabreicht werden. Vermutlich ist Massage bei depressiven Patienten
deshalb besonders wirksam, weil sie unmittelbar Haut und Tastsinn
anspricht. Die letztgenannten sind für die menschliche Identität und die
primäre Interaktion mit der Welt besonders bedeutsam, welche bei
depressiven Kranken meist massiv beeinträchtigt sind.
Zu diesen Schlussfolgerungen
gelangen B. Müller-Oerlinghausen und Mitarbeiter in einer kontrollierten
und außergewöhnlich ausgefeilten Studie. In sie flossen Daten von 32
stationär behandelten depressiven Kranken ein, die überwiegend unter
rezidivierenden depressiven Störungen verschiedener Schweregrade, schweren
depressiven Störungen, bipolaren Störungen und Dysthymien litten. Alle
Patienten erhielten in einem randomisierten Crossover-Verfahren jeweils
drei Massagen und zwei Kontrollbehandlungen (Mischung aus reinen
Entspannungs-, Wahrnehmungs- und Aktivierungsübungen ohne jegliche
Berührung). Die Dauer betrug immer 60 Minuten. Mehrere
Selbstbeurteilungsinstrumente und eine Fremdbeurteilung dienten dazu, den
Effekt auf depressionsspezifische Erlebnisvariablen zu erfassen.
Die Massage erfolgte mit warmem
Öl in einem ruhigen Raum bei leiser Hintergrundmusik. Sie erstreckte sich
35 Minuten lang auf die Körperrückseite und 25 Minuten lang auf die
Körpervorderseite der auf dem Massagetisch entkleidet liegenden Patienten.
Alle Griffe waren weich und gingen fließend ineinander über (wobei immer
eine Hand den Kontakt zum Körper der Massierten aufrechterhielt). Bei den
Massagegriffen handelte es sich vor allem um Streichungen (Effleurage) und
Knetungen (Petrissage), zu einem geringeren Teil auch um Reibung/Zirkelung
(Friktion).
Sowohl die Massagen als auch die
Kontrollbehandlungen wirkten sich günstig auf die erfassten
Befindlichkeitsparameter aus. Die Massagen waren jedoch im Hinblick auf
die eingangs genannten Kriterien deutlich effektiver. Die Autoren
vermuten, dass Massagen depressiven Patienten helfen, positive körperliche
Stimuli wieder wahrzunehmen und damit die typische „Gefühl- und
Lustlosigkeit“ (Anhedonie) zu durchbrechen. Dazu passen Anmerkungen
einiger Teilnehmerinnen, die nach der Massage nicht mehr ihre „Gummihaut“
spürten bzw. es genossen, dass „ein großer Stein von ihrer Brust genommen
wurde“. Studien zur Babymassage entnehmen die Autoren den Hinweis, dass
Massage die für Entspannungsprozesse wichtige Aktivität des Vagusnerven
verstärkt. Letztere scheint antidepressiv zu wirken, wie die erfolgreichen
Behandlungen mit „Vagusstimulation“ andeuten.
Da es schon lange kasuistische
Hinweise auf den Nutzen von Massage bei depressiven Patienten gibt,
plädieren Müller-Oerlinghausen und Kollegen dafür, Massage vermehrt als
Komplementärtherapie einzusetzen und sie wissenschaftlich noch eingehender
zu untersuchen.
B. Müller-Oerlinghausen et al.:
Wirkungen einer „Slow Stroke“-Massage als komplementäre Therapie bei
stationären depressiven Patienten. Dtsch. Med. Wochenschr. 2004 (129)
1363-1368 |