Hand
aufs Herz: Können Sie sich vorstellen, einem Menschen abzunehmen, dass er
sich innerlich entscheidend geändert hat oder sich ab sofort gründlich
ändern will? Diese Frage stellt sich beispielsweise fast immer, wenn ein
Strafgefangener in die Freiheit entlassen wird. Bereut er wirklich seine
Taten und wird er künftig anders mit dem Leben umgehen? Kann man ihm jetzt
vertrauen und in ihm einen „Anderen“ sehen als vor der Inhaftierung? Kann
ich es dem Partner abnehmen, dass er wirklich künftig zu mir stehen wird
und sich definitiv für mich entschieden hat, wenn er mich zuvor mehrfach
betrogen hat und beispielsweise fremd ging?
Wie schwer es
unserer Gesellschaft fällt, einem Menschen seinen vorgezeigten Wandel
abzunehmen, zeigt sehr eindrucksvoll die Geschichte des ehemaligen
Hauptstürmführers der SS Dr. Hans Ernst Schneider (deren Einzelheiten ich
dem Buch von Arnold Retzer: Passagen. Systemische Erkundungen verdanke).
Der Erwähnte hatte über „Turgenjew und die deutsche Literatur“ promoviert
und brachte es dann während der Nazizeit in Heinrich Himmlers Abteilung
„Ahnenerbe“ bis zum Leiter der „Zentralstelle des Germanischen
Wissenschaftseinsatzes“. Nach dem Krieg nahm Hans Ernst Schneider den
Namen „Hans Schwerte“ an, heiratete erneut seine Frau, adoptierte seine
Kinder, promovierte nochmals neu in Germanistik und habilitierte sich dann
mit einer Arbeit über „Faust und das Faustische – ein Kapitel deutscher
Ideologie“. Die letztgenannte Leistung verschaffte ihm den Ruf eines
Begründers einer kritischen Germanistik. Im weiteren Verlauf seines
Berufslebens wurde er zuerst Rektor und nach seiner Emeritierung
Ehrensenator der Technischen Universität Aachen. Außerdem betätigte er
sich als Beauftragter der nordrhein-westfälischen SPD-Landesregierung für
den Wissenschaftsaustausch mit Belgien und den Niederlanden und erhielt
das Bundesverdienstkreuz. Während seiner amtierenden Zeit als Professor
stand er für die Verbindung von neuem Linksradikalismus und altem
Liberalismus, was von Studenten respektiert oder sogar verehrt wurde. Erst
Anfang Mai 1995 wurde er als „Hans Ernst Schneider“ enttarnt, was die
Öffentlichkeit empörte und die Mehrheit dazu bewegte, sich von ihm zu
distanzieren. Schwerte wurden der Professorentitel, die Beamtenrechte und
das Bundesverdienstkreuz entzogen und alle bis dahin bezahlten
Beamtenbezüge zurückgefordert. Waren diese Reaktionen (noch) angemessen?
Vor einem
ähnlichen Dilemma stehen fast alle Menschen irgendwann in ihrem Leben,
wenn sie von einer wichtigen Bezugsperson enttäuscht werden. Der damit
verbundene Zweifel wird noch lange spürbar sein, auch wenn die betreffende
Bezugsperson fest ihren Veränderungswillen bekundet und diesen sogar durch
Taten unterstreicht. Sicherlich werden uns Handlungen eher überzeugen als
bloße Worte, aber wie das vorgestellte Beispiel zeigt, kann selbst nach
Jahrzehnten eindrucksvollen Wandels das gesamte Kartenhaus rasch in sich
zusammenstürzen. Wir alle wissen, dass auch der „Täter“ weiß, was er getan
hat, dass es also in diesem einen Teil gibt, der noch immer über das
Wissen und die Handlungsmöglichkeiten von früher verfügt. Woran wir
letztlich zweifeln, ist, ob der ehemalige „Täter“ in der Lage ist, künftig
auf diese Handlungsmöglichkeiten dauerhaft zu verzichten. Hier ist vor
allem Vertrauen gefragt. Und dieses hängt letztlich von dem Vertrauen ab,
das wir zu uns selbst haben: Denn jeder von uns beherbergt
unterschiedliche Teile, die oft mit sehr widersprüchlichen
Handlungsimpulsen und Werten verbunden sein können. Wenn wir selbst
bezweifeln, ob wir die eigenen „bösen“ Anteile dauerhaft kontrollieren und
einen von uns geplanten Entwicklungsweg konsequent einhalten können,
werden wir auch anderen Menschen gegenüber eher skeptisch sein: Denn wenn
ich mir schon selbst nicht vertrauen kann, wie soll ich dann erst recht
einem Fremden trauen?
Der Fall des
Hans Schneider alias Hans Schwerte verdeutlicht, dass es mitunter mehr von
der Umwelt abhängt als vom Betroffenen selbst, ob ein Wandel als vollzogen
gilt. Hier reichte selbst ein halbes Jahrhundert neuen und bis dahin
öffentlich akzeptierten Lebens nicht aus, um Hans Schwerte als
rehabilitiert zu betrachten. Schwertes Kommentar „Ich habe mich doch
selbst entnazifiziert“ stieß auf taube Ohren. Möglicherweise mangelte es
der Öffentlichkeit auch an offenkundiger Reue und ausreichender Sühne.
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