Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie, Coaching, Mediation u. Prävention
Dr. Dr. med. Herbert Mück (51061 Köln)

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VerANTWORTungsvoll leben

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Noch besser als das deutsche Wort zeigt der entsprechende englische Begriff, worum es bei „VerANTWORTung“ besonders geht: um die „RESPONSE-ability“, also die FÄHIGKEIT, eine Antwort geben und hierbei insbesondere mit Worten reagieren zu können. VerANTWORTungsFÄHIGKEIT und Antwort-Fähigkeit („Responsivität“) sind offenbar nicht nur sprachlich, sondern auch aufgrund des gemeinten Lebensbezugs sehr verwandt. Da Antworten nur in Beziehungen Sinn machen (sonst wären es Monologe), gehört VerANTWORTungsfähigkeit zu den besonders wichtigen Beziehungskompetenzen. VerANTWORTung hat vor allem deswegen wortwörtlich etwas mit „Antwort“ zu tun, weil zwischenmenschliche Handlungen immer (!!) erst durch die Antworten, die sie auslösen bzw. erhalten, ihren für die Interaktion relevanten Sinn bekommen, ja existent werden. Der zuerst Handelnde bzw. Kommunizierende kann zwar beabsichtigen, durch sein Verhalten und seine Worte seinem Interaktionspartner eine bestimmte Information zu vermitteln. Was das Ganze letztendlich „bedeutet“ (auslöst und damit bewirkt, also Wirklichkeit schafft), entscheidet jedoch erst der Antwortende durch seine Deutung dieses Bemühens (inklusive seiner damit verbundenen Reaktionen).

Letztendlich ist es also der Antwortende, der besondere VerANTWORTung für die Erschaffung von (zwischenmenschlicher) Wirklichkeit trägt. Er bestätigt, ignoriert oder ersetzt das mit dem jeweiligen Verhalten verbundene Weltbild bzw. die Verhaltensregeln des Handelnden. Beispiel: Wenn ich eine andere Person anlächele, entscheidet erst deren Reaktion, ob mein Verhalten in dieser konkreten Situation als „Sympathie-Bekundung“, „Einladung zum Kontakt“, „unsicheres Vermeidungsverhalten“ oder als „Auslachen“ oder „Spott“ WIRKEN kann. Wer auf eine andere Person antwortet, vermittelt dieser das Erleben, nicht nur einer Antwort würdig zu sein („Wertschätzung“), sondern diese selbst auch ausgelöst zu haben. Letzteres fördert das wichtige Grundgefühl, in dieser Welt etwas bewirken zu können. Beides zusammen erzeugt ein Gefühl von Lebendigkeit. Wer dagegen nicht mehr antwortet, lässt nicht nur die Beziehung absterben, sondern verweigert dem anderen auch eine Bestätigung seiner Existenz. Vor diesem Hintergrund wird vielleicht auch verständlich, warum Computerspiele und Internet, mit ihren eindrucksvoll prompten und persönlich wirkenden „Antworten“ auf viele Menschen so faszinierend wirken und mitunter auch süchtig machen können. Sehr oft wird man in der Vorgeschichte der Betroffenen einen Mangel an Beantwortung („AnERKENNUNG“) finden. Bedeutsame VerANTWORTung tragende Personen sind neben Eltern und anderen wichtigen Bezugspersonen vor allem auch Psychotherapeuten.

Schon diese wenigen Hinweise dürften verdeutlichen, dass „VerANTWORTung“ und die in dem Begriff enthaltene „Antwort“ sehr viel mit unserer Menschwerdung bzw. Persönlichkeitsreifung zu tun haben: Wer als Kind kaum „beAntwortet“ wurde (indem er nicht ausreichend auf ihn abgestimmte Beachtung erfuhr), wird sich auf Dauer selbst kaum kennen lernen. Er wird möglicherweise das Gefühl entwickeln, unbedeutsam oder als Person gar nicht wahrnehmbar oder mit Worten nicht fassbar zu sein. Ist dies der Fall, kann sich ein ausreichendes Identitätsgefühl nur schwer entwickeln. Außerdem wird der Betreffende dazu neigen, sich fremden Vorstellungen anzupassen, statt eigene zu entfalten. Später wird er aufgrund der mangelnden Selbstkenntnis nur mit Mühe zu authentischen Antworten in der Lage sein (ungenügende „RESPONSE-ability“). Doch damit nicht genug: Ein in seiner persönlichen Entwicklung zu wenig be-Antworteter Mensch erlebt in diesem Mangel auch einen Mangel an „Bindung“ an andere. Da das Bedürfnis nach Bindung für jeden von uns elementar ist, kann ein zu wenig be-Antwortetes und damit nicht sicher gebundenes Kind in seiner Not sogar zu einer Rollenumkehr bewogen werden. Dies erfolgt oft nach folgendem Schema: Um die Beziehung zu den wichtigen Bezugspersonen trotzdem aufrechtzuerhalten, also deren Aufmerksamkeit zu erhaschen, wechseln manche Kinder notgedrungen die Rollenverteilung: Indem sie die Bedürfnisse der (erwachsenen!) Bezugspersonen genau wahrnehmen und diese möglichst auch bedienen (also ihrerseits „beantworten“), übernehmen sie automatisch und viel zu früh VerANTWORTung, ohne dafür ausreichend herangereift zu sein (Fachausdruck: „Parentifizierung“, abgeleitet von dem lateinischen Wort „parentes“ = Eltern). Da es sich um eine sehr früh erlernte „Überlebensstrategie“ zur „Beziehungsregulation“ handelt, bleibt diese (unbewusst!) oft lebenslang erhalten. Sie verleitet die Betroffenen dazu, über das notwendige Maß hinaus immer und immer wieder Verantwortung zu übernehmen. Oft handelt es sich um sehr angepasst wirkende und im Umgang mit sich selbst mitunter hilflos erscheinende Menschen. Mangels ausreichender „Be-Antwortung“ ihrer eigenen Gefühle und Eigenarten, bleiben ihnen diese in der Eigenwahrnehmung eher verborgen, während sie die Gefühle und Eigenarten anderer meist hochsensibel registrieren. So kommt es, dass viele gar nicht oder erst sehr spät fühlen, wenn ihre Belastungsgrenzen (durch ein Übermaß an übernommener Verantwortung) überschritten sind.

Wer dagegen als Kind das Glück hatte, dass ihr oder ihm ausreichend verANTWORTungsfähige Bezugspersonen zur Seite standen, wird sich in den auf ihn abgestimmten (insbesondere auch emotionalen!) Antworten („Feedbacks“) wiedererkennen und so zu einer in sich stimmigen und selbst verANTWORTungsFÄHIGEN Persönlichkeit heranreifen. Der VerANTWORTungsFÄHIGKEIT immanent scheint also auch die Aufgabe zu sein, durch Antworten (Feedbacks) anderen zu mehr Selbst-BEWUSSTSEIN zu verhelfen. Um dieses Ergebnis zu erreichen, müssen Antworten („Feedbacks“) auf den jeweiligen Zustand des anderen abgestimmt sein und insbesondere auch dessen Gefühlsmitteilungen angemessen beantworten („validieren“, siehe eigenes Merkblatt). Im Begriff „Feedback“ (das sich oft synonym mit „Antwort“ verwenden lässt, „Rückmeldung“ erscheint mir zu militärisch) klingt zugleich an, dass es sich im optimalen Fall um einen wechselseitig miteinander verwobenen Prozess handelt, bei dem wir uns gegenseitig „nähren“ (engl. to feed) bzw. zu bewusster Existenz verhelfen. Erst dadurch können wir reifen bzw. letztlich erwachsen werden. Wer dagegen anderen kein Feedback gibt, lässt diese oft regelrecht in ihren Entwicklungsmöglichkeiten „verhungern“.

Eine optimale „Response-Ability“ dürfte sich besonders gut mit den von der Bindungsforscherin Mary Ainsworth beschriebenen Kriterien der „Feinfühligkeit“ beschreiben lassen: 1. Erkennen, dass ein anderer ein Signal sendet. 2. Dieses Signal aus der Perspektive des Anderen deuten. 3. Angemessen (also mit der passender Dosis) darauf zu reagieren. 4. Prompt zu reagieren. Als weiteres Kriterium würde ich selbst die Fähigkeit hinzurechnen, nicht nur die Ursachen der erforderlichen Antwort, sondern auch deren mögliche Folgen zu bedenken. In der Regel ist es auch hilfreich, dem anderen wissen zu lassen, inwieweit das bei einem selbst ausgelöste Gefühl, mehr mit dem anderen oder mehr mit der eigenen Person und deren Vorgeschichte zu tun hat (Dies setzt natürlich eine sehr gute Kenntnis der eigenen Person voraus). Wer über diesen Mix aus Fähigkeiten „ausreichend“ gut verfügt, ist verANTWORTungsfähig und handelt dadurch „erwachsen“.

Der Informationsaustausch zwischen einem verantWORTungsfähigen Mensch und dem „BeantWORTeten“ erfolgt oft auf symbolischer Ebene (insbesondere durch Sprache, die symbolhaft für die mit ihr mitgeteilten Inhalte steht). Indem man bei einem anderen Menschen die Fähigkeit zur Symbolisierung fördert, versetzt man ihn auch in die Lage, sich von einem rein handlungsbezogen gelebten Leben („Aktionismus“) auf eine symbolische Ebene zu begeben. Von dieser aus kann man sich dann mit dem nötigen Abstand (wie aus der Vogelperspektive) selbst betrachten und sich so seiner selbst bewusst werden. Symbole sind zudem oft sehr viel informationsreicher als andere Kommunikationsmittel. Möglicherweise nutzen wir bei unserer Selbstregulation Symbole in einem weitaus größeren Maß, als uns bewusst ist (Analogie: Es genügt auf dem Bildschirm eines Computers auf ein einziges Symbol („Icon“) zu „klicken“, um ein umfangreiches und uns im einzelnen unvertrautes Programm in Gang zu setzen. Warum sollte es in unserem Gehirn anders ablaufen, zumal Computer Produkte (Abbilder? Symbole?) unseres Gehirns sind.

Wer sich verANTWORTungsVOLL verhält, kann das menschliche Miteinander über Worte regulieren, was insbesondere den Verzicht auf Gewalt und andere Machtmittel ermöglicht. Welche gewichtige Rolle „Antworten“ für das menschliche Miteinander spielen, zeigt unsere Umgangssprache in Formulierungen wie „einer Antwort wert sein“, „die Antwort schuldig bleiben“ oder die „Antwort verweigern“. Fast jeder weiß, dass Ignoranz (also keine Antwort zu geben) zu den schmerzhaftesten zwischenmenschlichen „Strafen“ gehört.

Ein wesentliches Zeichen von „Reife“ oder „Erwachsenwerden“ sind somit die Bereitschaft und die Fähigkeit, VerANTWORTung zu übernehmen. Menschen, die dazu noch nicht in der Lage sind, erkennt man oft daran, dass sie für „Probleme“ die „Schuld“ bei anderen suchen. Dadurch verhalten sie sich so, als hätten sie mit der jeweiligen Angelegenheit nichts zu tun. Sie tun so, als sollte möglichst ein anderer und nicht sie selbst „Rede und Antwort stehen“.

Erwähnt sei auch das Phänomen, das manche Personen pausenlos sprechen und auf diese Weise letztendlich verhindern, dass andere ihnen antworten. Ob hinter einem solchen Phänomen eine von Vorbildern übernommene ungünstige Gewohnheit steht („Wer immer nur spricht, erfährt nichts über sich selbst“) oder sich der Versuch verbirgt, sich durch Antworten nicht beeinflussen zu lassen (Angst!), oder ob weitere Gründe eine Rolle spielen, hängt immer vom Einzelfall ab.

Verantwortung wird zwar oft als „Pflicht“ erlebt, hat mit dieser aber weder sprachlich noch funktional viel zu tun: Während Verantwortung als „Response-Ability“ eine in uns angelegte Fähigkeit darstellt, werden Pflichten in aller Regel von außen an uns herangetragen und eher als „Fremdkörper“ erlebt.

Vor dem hier nur grob skizzierten Hintergrund wird verständlich, dass sich innerhalb der Psychotherapie eine spezielle Richtung entwickeln konnte, die sich besonders dem „Prinzip Antwort“ verschrieben hat (Heigl-Evers, psychoanalytisch-interaktionelle Methode). Auch in meinem therapeutischen Angebot nehmen „Antworten“ bzw. „Feedbacks“ sowie die Einladung zur VerANTWORTUNGsübernahme eine zentrale Stellung ein, sei es in Form der schriftlichen „Therapeutischen Rückmeldungen“, in Form des „Sitzungsfeedbacks“ durch den Patienten oder in Form des Angebots einer „Email-gestützten Begleitung“. Besonders bei Emails kann ich immer wieder beobachten (und an der Zahl der gesendeten Mitteilungen quantitativ einigermaßen gut ablesen), wie „hungrig“ mancher Schreibende nach Antwort bzw. FEEDback ist. Ich ermutige immer gerne dazu, eine erwachsene Kultur der VerANTWORTungsFÄHIGKEIT zu entwickeln und zu leben. Dabei geht es dann darum, dass alle Beteiligten gleichermaßen verANTWORTungsFÄHIG sind. Es gilt, im Dialog gemeinsam zu verantwortende Bedeutungen auszuhandeln und damit eine gesunde soziale und mentale Wirklichkeit zu konstruieren.

Abschließend noch eine Anmerkung zu den Begriffen „Wort“ und „VerantWORTung“. Die außergewöhnliche Funktion und Bedeutung des „Worts“ für die menschliche Zivilisation unterstreichen zentrale Sätze aus der Bibel. So heißt es im Johannes-Evangelium (Kapitel 1, Vers 1) „Am Anfang war das Wort“ und findet sich in der Schöpfungsgeschichte der Satz (Genesis 1,3) „...und Gott sprach: Es werde... und es ward“. Bezogen auf unsere Entwicklung als Menschen mit Bewusstsein könnten diese Aussagen bedeuten, dass erst die Einführung von Worten es uns erlaubte, einzelne Phänomene als etwas vom „Rest der Welt“ zu Unterscheidendes bzw. als Schöpfung zu erkennen. Beispiel: Eskimos können viele Formen des Schnees vermutlich nur deswegen so gut erkennen und darauf bezogen dann auch leben, weil es für diese „Schneearten“ eigene Worte (Symbole) gibt. Worte erschaffen also auch Wirklichkeit. Deswegen erscheint der angemessene Umgang mit Worten als besonders verantWORTliche Aufgabe. Wer als Lehrer ein Kind als „asozial“ oder „lernunfähig“ etikettiert oder als Psychotherapeut einen Patienten als „verhaltensgestört“ diagnostiziert und damit von anderen abhebt, kann allein durch die Wortwahl Wirklichkeiten erzeugen, unter denen die Betroffenen lebenslang leiden.

Dieser Text verdankt einige wichtige Anregungen den Bücher „Das Risiko der Verbundenheit – Intersubjektivitätstheorie in der Praxis“ von Chris Jaennicke (Klett-Cotta 2007) und „Therapeutische Räume. Zur Theorie und Praxis psychotherapeutischer Interaktionen“ von Klaus Brücher (Spektrum Akademischer Verlag 2005).