Menschen, die
psychotherapeutische Hilfe aufsuchen und sich sogar die Mühe machen, diese
Zeilen zu lesen, erlebe ich als mutiger, interessierter und
entwicklungsbereiter als solche Personen, die ihre Angst dadurch zu
verbergen versuchen, dass sie sich über Psychotherapie lustig machen bzw.
diese abwerten. Sie zeigen, dass sie über ihren Schatten springen können und
sich ihrer selbst nicht übermäßig schämen (was die wegbleibenden
Menschen oft tun). Vor ihnen habe ich besondere Achtung. Oft handelt es ich
um die seelisch gesündesten Mitglieder einer Familie. Sie haben es
übernommen, Leiden und Schmerz anderer Familienangehöriger stellvertretend
auszutragen. „Normalität“ ist nur das Ergebnis einer
gesellschaftlichen Einigung darüber, was von der Mehrheit zur Zeit
akzeptiert wird. Der Begriff rechtfertigt es nicht, anderes Verhalten
abzuwerten.
Viele
Psychotherapie-Patienten tun sich anfangs sehr schwer mit dem Eingeständnis,
alleine nicht mehr weiterzukommen und Hilfe zu benötigen. Dabei vergessen
sie eigenartigerweise, dass gegenseitige (arbeitsteilige) Hilfe zu den
Selbstverständlichkeiten gemeinschaftlichen Zusammenlebens gehört. Wenn das
Auto nicht mehr fährt, schämt man sich ja auch nicht, eine Werkstatt
aufzusuchen. Die menschliche Seele ist nun aber keineswegs einfacher
strukturiert als ein Auto. Nur meinen die meisten Menschen, mit seelischen
Problemen alleine zurechtkommen zu müssen. Für mich ist es ein
Ausdruck innerer Stärke, zu seinen Schwächen stehen zu
können.
Ein weiteres
häufiges Bedenken lautet, dass man sich doch nicht so viel mit sich selbst
beschäftigen darf, dies sei „egoistisch“. Hier kann der bereits
genannte Hinweis entlasten, dass man ja auch selbst ein Mensch ist und
deshalb auch in dieser Form eine Beziehung zu einem Menschen hat und haben
darf. Menschen, die sich vermehrt mit sich selbst beschäftigen, tun dies
mitunter auch deswegen, weil sie in Beziehungen zu anderen Menschen
schlechte Erfahrungen gemacht haben und sich deshalb lieber auf die sicherer
erscheinende Beziehung zu sich selbst zurückziehen. Auch seelisch
verursachte körperliche Symptome lassen sich vor diesem Hintergrund
interpretieren: Noch immer gilt es in unserer Gesellschaft als zulässiger
und üblicher, sich in Form körperlicher Beschwerden mit sich selbst zu
beschäftigen als in Form seelischer Beschwerden. Wer sich traut, sich
seelisch mit sich selbst auseinanderzusetzen, kann dann mitunter auf das
körperliche Symptom verzichten. Solange Sie sich bislang nur über Ihr
Symptom selbst wichtig und wahrnehmen, werde ich mich hüten, Ihnen dieses
ausreden zu wollen. Manche Menschen merken nur mit Hilfe von Schmerzen,
dass sie auch aus einem Körper bestehen, wie dieser funktioniert, aus wie
vielen Teilen er besteht und bis wohin er sich erstreckt. Leider sind einige
Symptome weniger gut wahrnehmbar und spürbar (etwa Bluthochdruck) als andere
(z.B. Hautveränderungen). Zwischen Ärzten und Patienten kommt es häufig zu
Missverständnissen, weil die erstgenannten vom „offiziellen Körpermodell“
ausgehen (das den Körper misst und wiegt), während die letztgenannten ihr
„inoffizielles Körpermodell“ zugrunde legen, bei dem der Körper gefühlt und
gespürt wird. Kinder rufen oft ihre Eltern als Sachverständige an
(Patienten ihre Ärzte), um die Realität und Bedeutung ihrer Beschwerden zu
überprüfen. Leider tendieren immer mehr Menschen dazu, sich vor allem an von
Maschinen erhobenen Messwerten oder an Laboruntersuchungen zu orientieren,
statt sich auf ihr Gespür zu verlassen.
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