Die über 60-jährige
Patientin ist völlig in ihrer Gedankenwelt verfangen. Obwohl sie bereits
zwei psychotherapeutische Einzelberatungen aufgesucht hatte, die sie
entwarnten, erinnert sie sich in der Not weder an den sie beruhigenden
Therapeuten noch an die Informationen aus den beiden Gesprächen. Krampfhaft
sucht sie stattdessen nach weiteren Bestätigungen ihrer katastrophalen
Befürchtungen. Der Patientin fehlt noch vollkommen die Einsicht in den
sich regelrecht aufdrängenden „psychosomatischen Zusammenhang“. Dabei
kann sie selbst sehr klar benennen, wann die Beschwerden zum ersten Mal
auftraten: An dem Tag, an dem sie vom Krebstod eines teils geliebten,
teils gehassten Onkels erfahren hatte. Seit diesem Tag glaubt sie
unerschütterlich, selbst todgeweiht zu sein. Die Dramatik wird vor dem
Hintergrund verständlich, dass die Patientin vaterlos aufwuchs und im
Onkel eine Art Vaterersatz sah. Leider war der Onkel absolut
nicht einfühlsam und eher ein Kinderhasser (in Kindern sah er die
„Vorhölle“). Zu einem Bruch in der Beziehung zum Onkel kam es, als
dieser sie als ca. 9jähriges Mädchen auf den Kopf prügelte, weil sie der
Großmutter, bei der sie aufwuchs, Widerworte gegeben hatte. Onkel und
Großmutter bedrängten anschließend das Mädchen, der Mutter nichts von
dem Vorfall zu berichten. Bis ins Erwachsenenalter behielt die Patientin
das Geheimnis für sich.
Offenbar hat die
plötzliche Nachricht vom Krebstod des Onkels blitzartig alte
Erinnerungen (insbesondere Ängste und Sorgen) wieder belebt, die von der
Patientin über Jahrzehnte verdrängt worden waren. In ihrem heutigen
Drama spiegelt sich ziemlich genau das Drama der hilflosen und
alleingelassenen 9-jährigen wider, der damals keine hilfreichen Personen
zur Seite standen, die sie hätten beruhigen können. So fehlte ihr die
Möglichkeit zu erleben und zu erlernen, wie man Gefühle erkennt und mit
ihnen umgeht. Zeit ihres Lebens richtete sie ihre Aufmerksamkeit vor
allem auf die Außenwelt, für die sie als Helferin tätig wurde. Als sie
plötzlich von der Vergangenheit eingeholt wird, sich die alten Gefühle
erneut einstellen und sie sich erstmalig auf ihr Innenleben
konzentriert, ist sie völlig überfordert. In allen Körperregungen
wittert sie Gefahr und Tod, statt darin die noch immer bzw. erneut
tobenden Gefühle eines seelisch tief verletzten Kindes zu erkennen.
Da die Hypochondrie der
Patientin erst relativ kurze Zeit währt (drei bis vier Monate) hat sie
bei rascher Intervention gute Aussichten, dass sich ihr Problem nicht
chronifizieren wird. Angesichts der Tatsache, dass sie es zur Zeit aber
nicht schafft, in ihrem häuslichen Umfeld aus dem Teufelskreis ihrer
hypochondrischen Befürchtungen auszusteigen, erscheint eine baldige
stationäre psychosomatische Behandlung sehr ratsam. Dies gilt um so
mehr, als die Patientin zur Zeit ambulant nur fünf probatorische
Sitzungen einer fachärztlichen Therapie wahrnehmen will.
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