Donnerstag
Ich stehe also auf der
Leiter. Zwei Stufen fehlen noch bis zum Rand und ich trage den bunten
Schal um den Hals. Plötzlich bemerke ich einen kühlen Wind, schaue nach
oben und da steht niemand mehr, der meine Leiter hält und mich nach oben
geleitet. Ich bin alleine! Nun bekomme ich doch einen Schreck, aber da
ist ja dieser Zettel an der Wand und ich steige kühn eine Stufe nach
oben. Die letzte Therapiestunde hat so viel bewegt in mir: Das einsame
Kind in mir muss nach über 50 Jahren befreit werden. Es wohnte unbemerkt
von mir und Herr Dr. Mück hat es entdeckt und ausgegraben. Es hat mir so
viel zu erzählen. Ich lasse für mich selbst Gefühle zu, ja Mitleid
(kenne ich sonst für andere Menschen) und weine ein paar Tränen. Aber
ich schaue auch nach vorne und beschäftige mich schon aus
geschichtlicher Perspektive mit dem Leben von E. und einer Zeit (mein
jetzt wieder belebtes Interesse, das ich in Kursen vertiefen will).
Freitag
Heute traue ich mich
etwas. Ich hole mein altes Fotoalbum heraus (das habe ich viele Jahre
nicht gemacht) und betrachte das kleine Mädchen mit seinen langen
schwarzen Locken. „Tausend“ Erinnerungen werden wach. Ich schaue lange,
dann lege ich das Album zurück und weine ein bisschen. Die Leiter
wackelt ein wenig, aber ich halte mich fest und bleibe stehen.
Samstag/Sonntag
Obwohl es meinem
Enkelsohn besser geht, bekomme ich beim Besuch im Krankenhaus
körperliche Probleme. Ich habe wieder das Gefühl, einen Hut auf dem Kopf
zu haben, bekomme Druck auf dem Hinterkopf, Augenprobleme und
Zungenbrennen. Erst gegen Abend geht es mir etwas besser. Ich lese in
meinem kleinen Büchlein „Flüstern der Seele“ von Rabindranath Tagore.
Ohne den gewünschten Erfolg. Aber ich bleibe auf der Leiter stehen. Für
meine Leute bin ich wieder ganz die Alte, aber so ist es noch nicht!
Montag
Alle Vorgespräche mit
S. wegen dem Studium sind gut verlaufen und die Bücher bestellt. Jetzt
habe ich doch ein wenig Angst vor dem eigenen Mut. Bei der Gelegenheit
habe ich mir die Biografie von Rosa Luxemburg gekauft: „Im Lebensrausch,
trotz alledem“. Ich bewundere starke Frauen, die viel bewegt haben in
ihrem Leben. Als ich am Sonntag meinen Enkelsohn im Krankenhaus
besuchte, fiel mir ein Plakat auf „Wünsch dir was!“. Es ist ein Verein,
der schwer erkrankten Kindern letzte Wünsch erfüllt. Meine Freundin und
ich entschlossen uns spontan, ihn mit Spenden zu unterstützen. Trotzdem
bin ich traurig und habe einen Hut auf und Zungenbrennen. Zwei Stufen
fehlen noch immer bis zum Rand auf der Leiter! Ich muss mehr Geduld mit
mir selbst haben.
Dienstag/Mittwoch
Nun habe ich mich
selbst ins Leben entlassen. Ich empfinde es als Abenteuer. Wie ein
Autorennen. Werde ich das Ziel erreichen? Wie konnte ich nur in dieses
tiefe Loch fallen? Aus dem Krankenhaus kommen schlechte Nachrichten, die
Leiter wackelt und wackelt. Aber ich muss stehen bleiben, damit ich
meiner Tochter helfen kann und meinem Enkelsohn. Nun will ich schließen
mit einem Satz von Rosa Luxemburg: „Ergreifen und erschüttern kann nur,
wer selbst ergriffen und erschüttert ist.“ |