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Erlebnisse eines Hypochonders
(in Fortsetzungen)
Der morgendliche Start
Am Morgen, nach dem
Aufwachen, setzt die Maschinerie des Gedankenkreisels ein: wie wird die
Autofahrt zur Arbeit sein, wie wirst du dich auf der Arbeit fühlen, wirst
du es heute durchstehen, wäre nicht alles viel einfacher, wenn du erst
gar nicht aufstündest, aber kann es dich nicht auch zu Hause erwischen?
Kreislaufzusammenbruch, Ohnmacht, Herzinfarkt, Gehirnschlag lauern schließlich
überall. Oder vielleicht noch schlimmer: merken andere Menschen, dass es
dir nicht gut geht, verlierst du vor deren Augen die Kontrolle und
bekommst einen Panikanfall. Welch eine Blamage!
Nach dem Aufstehen geht
es schon eine bisschen besser, ich merke, dass der Körper funktioniert.
Aber gleich auf der Autobahn wird das schon wieder anders aussehen, oder
wird es heute gut gehen?.
Es ist doch bis heute
immer „gut“ gegangen! Ja, es ist höllisch, wenn auf der Autobahn bei
Tempo 120 plötzlich das Gefühl hochsteigt die Kontrolle zu verlieren,
aber es ist doch schon tausend Mal nichts passiert. Es wir heute auch
nichts passieren.
Und wenn doch?
Quatsch, reiß dich
zusammen oder willst du dich lebendig begraben lassen; außerdem hast du
heute wichtige Dinge zu erledigen, kneifen gibt es da nicht.
Die ersten Meter im Auto
sind ganz leicht. Alles funktioniert. Jetzt aber nähere ich mich der
Autobahn. Mein Körper spannt sich. Aha, es geht wieder los. Die drei
Kilometer bis zur Abzweigung auf die Autobahn gehen nur geradeaus. In
meinem Kopf erhöht sich der Druck, die Finger fassen das Lenkrad fester,
im Nacken spüre ich Verspannung. Irgendwie sehen ich auch nicht mehr so
gut, mein Blickfeld scheint sich einzuengen, nur noch geradeaus schauen,
den Kopf nicht mehr drehen, es könnte dir schwindelig werden. Der
Herzschlag hat sich auch beschleunigt, er schlägt schon im Kopf. Jetzt
auf die Autobahn? Mein Gott, wenn es dir da noch schlechter geht, was kann
da nicht alles passieren! Wenn es ganz schlimm wir, kann ich ja noch auf
den Standstreifen fahren und warten, bis es besser wird.
Also gut, ich fahre
weiter. Wenn diese Ampel jetzt grün wird und ich links abbiege, bin ich
auf der Autobahn, dann gibt es kein Zurück mehr. Kein Zurück! Das hätte
ich besser nicht gedacht. Schweiß bildet sich auf der Stirn und unter den
Achseln. Kein Zurück! Wenn es aber nicht mehr geht? Kein Zurück! Reiß
dich zusammen, du kennst das Spielchen doch. Ja ich kenne es, aber ich
kann es nicht mehr aushalten. Natürlich kannst du es aushalten, genau so
wie all die anderen Male auch.
Die Finger krallen sich
um das Lenkrad. Jetzt Gas geben, um sich in den fließenden Verkehr
einzuordnen. Hinter mir, vor mir die riesigen Lastwagen. Auf den anderen
Spuren rasen die schnelleren Pkw. Jetzt nur nicht die Kontrolle verlieren.
Der Mund ist trocken, die Zunge klebt beim Schlucken am Gaumen. 130Km/h,
Blutdruck doppelt so hoch, mindestens. Der Rücken schmerzt, der Blick trübt
sich, also reiß die Augen auf, sieh zu, dass du auf der Spur bleibst.
Scheiße, wenn ich jetzt ohnmächtig werde, gibt es hier ein Massaker. Wie
sieht es auf dem Standstreifen aus, alles frei? Ich will nicht auf den
Standstreifen, wer weiß, was mir da passiert. Es sind doch nur noch ein
paar Kilometer bis zur Ausfahrt, das muss irgendwie gehen. Hoffentlich
kein Stau, dann werde ich ganz wahnsinnig. Inzwischen rede mit mir selbst,
pfeife und singe irgendein dummes Zeug. Mein Gesicht muss ganz verzerrt
sein vor Anspannung. Zum Glück kann mich keiner sehen. Ich muss meine
Finger bewegen, die sind schon ganz weiß und taub. Vor Anspannung ist mir
ganz schummerig zumute, bei der Herzfrequenz kein Wunder. Aber dein Arzt
hat dir doch schon mehrfach bestätigt, dass dein Herz prima funktioniert.
Stimmt, aber der hat noch nie ein EKG gemacht, wenn es mir so geht wie
jetzt; vielleicht hält das das gesündeste Herz nicht aus?! Und dieser
Druck im Kopf, irgendwann platzen mir da die Gefäße, und dann? Sollte
ich doch lieber auf den Standstreifen fahren? Und dann? Dann stehe ich da
und weiß nicht mehr weiter. Soll ich vielleicht einen Notarzt rufen?
Da ist das Hinweisschild
für die Ausfahrt, noch 1000 Meter. Ein Stau, auch das noch, jetzt bin ich
hier gefangen. Es geht nicht mehr weiter, nur die Angst geht weiter. Ich
horche wieder in mich hinein, hoher Puls, Schwindel, kalter Schweiß und
es geht nicht weiter. Es ist zum Verzweifeln, oft schaffe ich das nicht
mehr. Das halte ich nicht mehr aus. Am Besten lasse ich mich in die Psychiatrie
einweisen. Quatsch, das Essen soll da schlecht sein. Wenn ich jetzt
kollabiere, geschieht das wenigstens nicht im fließenden Verkehr. Außerdem
will ich nicht kollabieren, ich will auch noch nicht sterben. Ich muss
hier raus. Wie denn, wohin denn? Willst du die Karre einfach hier
abstellen und zu Fuß weitergehen. Damit machst du dir bei deinen
Staugenossen keine Freunde. Außerdem, zu Fuß weiter gehen; so wie du
jetzt beschaffen bist, läufst du keine hundert Meter weit, dann liegst du
irgendwo neben der Fahrbahn, wo dich keiner sieht und dir keiner hilft.
Also kein Ausweg. Dann soll es mich eben hier erwischen, ist jetzt auch
egal. Eben nicht egal, ich will nicht, dass es mich erwischt. Das will
mein Körper wohl auch nicht, denn für Wort „erwischen“ bedankt er
sich noch einmal mit einer Dosis Adrenalin. Zum Glück geht es wieder
voran. Da ist die Ausfahrt. Du kannst wieder beruhigen, du bist gleich
draußen. Wenn das mal so einfach wäre. Meine Blutdruck etc. spielen
immer noch verrückt. Passieren kann mir auch jetzt noch etwas. Jetzt
stehe ich wieder vor dieser verdammten Ampel. Wieder das Gefühl, nicht
vorwärts zu kommen. Ich will weiter. Alle Körperfunktionen sind auf
Flucht eingestellt und ich stehe hier. Noch immer hämmert es in meinem
Kopf. Ich kann kaum ruhig sitzen bleiben. Gang rein, Gang raus, ich bin
total hektisch, kann meine Motorik kaum kontrollieren. Wenn ich hier noch
länger stehe, laufe ich schreiend davon. Machst du ja doch nicht, das wäre
dir viel zu peinlich. Endlich grün! Noch drei Ampeln, dann hast du es
geschafft. Die Turbulenzen im Körper nehmen etwas ab. Ich fühle mich
unendlich schwach, dabei ist das erst der Beginn des Tages. Wie soll ich
das nur durchstehen? So wie immer, also hör auf zu jammern. Noch einmal
rechts abbiegen und auf den Parkplatz fahren. Frühsport beendet. Jetzt
aber nicht gleich aussteigen, erst einmal durchatmen und sich strecken.
Beim Aussteigen habe ich weiche Knie, trete unsicher auf. Na klar, das ist
die Reaktion auf die Attacke, oder erwischt es mich jetzt doch noch? Nein,
hör auf dich in die nächste Attacke zu jagen. Warte bis morgen früh ...
(Fortsetzung folgt)
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