Chirurgische Maßnahmen sind schmerzhaft und greifen in die
Körperintegrität ein. Unabhängig von der kurativen oder palliativen
Zielsetzung lösen sie im Patienten ein Gefühl der Angst aus. Viele
Patienten geben an, die Ursachen ihrer Angst nicht konkretisieren zu
können. Sie haben ein „komisches Gefühl“. Konkrete angst- oder besser
Furcht auslösende Faktoren haben sich im Lauf der Jahre verändert. Dies
zeigen viele Untersuchungen aus den 50er bis zu den 80er Jahren des
letzten Jahrhunderts. Dies hat mehrere Ursachen. Die Menschen haben sich
geändert, ihre Lebenseinstellungen, die sozialen und politischen
Verhältnisse u. v. a. m. Waren Anästhesie und Operation vor 20 – 30
Jahren Geheimnis umwobene Vorgänge hinter verschlossenen Türen, so
können sie heute zu normalen Sendezeiten im Fernsehen verfolgt werden.
Interessanterweise gibt es meines Wissens keine Untersuchung, die sich
mit den Auswirkungen der veränderten Gegebenheiten Anfang des 21.
Jahrhunderts befasst. Viele Angst auslösende Ursachen und Faktoren haben
sich verändert: die Operationstechniken, die Anästhesiemethoden, die
OP-Organisation (stationär, prästationär, ambulant) u. v. a. m. Dies hat
beispielsweise zur Folge, dass eins der wichtigsten anxiolytischen
Maßnahmen, die Prämedikation, bei ambulanten Patienten gar nicht mehr
durchgeführt wird. Ein Ergebnis früherer Untersuchungen, dass der
prämedizierende Anästhesist möglichst auch der die Anästhesie
durchführende Anästhesist sein sollte, ist heute zumindest in einer
größeren Klinik fast nicht mehr organisierbar. Weshalb ist es überhaupt
notwendig, sich mit der Angst des Patienten zu beschäftigen? Angst hat
emotionale, physiologische und Verhaltenskonsequenzen. Die emotionale
Komponente muss uns aus humanen Gründen interessieren, die
physiologischen Konsequenzen sind unmittelbar anästhesie-relevant und
die Verhaltenskonsequenzen dienen dazu, das Ausmaß der Angst bzw. die
Art der Angstbewältigung festzustellen. Zum besseren Verständnis unserer
Patienten ist es notwendig etwas über Angstbewältigung zu wissen. Der
Zustand der Angst ist unangenehm und jeder Mensch versucht, diesen
Zustand zu ändern. Die Angstbewältigung variiert vom extrem Sensitiven,
d. h., der Patient sucht alle möglichen Informationen auf allen
möglichen Wegen, um ein vollständiges Bild der Situation zu erlangen
(was nicht gelingt) bis hin zu vollständiger Verleugnung und Verdrängung
der Bedrohlichkeit der Situation (Repression). Mehrere Untersuchungen
haben gezeigt, dass eine Angstbewältigung, die zu einem mittleren,
sozusagen situationsadäquaten Angstniveau führt, für den
Krankheitsverlauf am günstigsten ist. Der extreme „Sensitizer“ leidet
vor allem emotional bis hin zu Panikattacken mit Bettflucht,
Katheterentfernung u. s. w. Extreme „Represser“ hingegen geben vor,
keine Angst zu haben, leiden aber physiologisch: sie neigen zu
ausgeprägten Stressreaktionen, von Tachykardie und Blutdruckerhöhung bis
hin zu vasovagalen Synkopen. Frauen neigen eher zu einem sensitiven
Angstbewältigungsmechanismus, Männer sind häufiger Represser.
Beide Extremgruppen stellen Problempatienten dar, auf die individuell
eingegangen werden muss. Die einfachste Methode ist die medikamentöse
Prämedikation mit anxiolytisch wirkenden Benzodiazepinen.
Wie erkennt man Problempatienten? Glücklicherweise gelingt es im
Prämedikationsgespräch, sowohl durch Befragung als auch durch
Beobachtung der Patienten, den emotionalen Zustand gut einzuschätzen.
Dies gilt nicht mehr für prämedizierte Patienten: hier können die
Angsteinschätzung der Patienten von denen der Behandelnden extrem
differieren.
Im Hinblick auf eine patientenorientierte anästhesiologische und
operative Behandlung erscheint es auch heute notwendig, das Thema Angst
in die aktuelle Forschung wieder einzubeziehen: in der Klinik drängt
sich beispielsweise der Eindruck auf, dass ausgerechnet die Patienten,
die von einem Periduralkatheter bei Lungen- oder abdominellen Eingriffen
profitieren würden, diesen aus Angst (oder Angstverleugnung) ablehnen.
Ich möchte deshalb den heutigen Vortrag dazu benutzen, wieder die
Aufmerksamkeit auf psychologische Faktoren zu richten mit dem Ziel,
unsere Maßnahmen menschlicher und zugleich effektiver zu machen.
Autor:
Prof. Dr. W.
Tolksdorf
Prof. Dr. med.
Werner Tolksdorf,
Chefarzt, Klinik für Anästhesie, Klinikum Hildesheim GmbH
Klinik für Anästhesie
Klinikum Hildesheim GmbH
Vortrag im Rahmen des 52. Anästhesiecongresses in
München
19. April 2005;
08.30 - 10.00 Uhr; Raum 02 |