Während man bisher annahm, in unserer
Großhirnrinde gebe es verschiedene Areale, unter anderen eines für
willkürliche Bewegungen der Extremitäten, so findet man neuerdings, dass
Bewegungen sehr viel komplexer auch durch im Unterbewusstsein ablaufende
Aufmerksamkeit gesteuert werden. Normalerweise braucht man nicht seine
Aufmerksamkeit auf einen Arm zu richten, wenn man ihn bewegen will. Anders bei
gewissen Hirnschäden, etwa nach Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Verletzungen.
Hier kann es sein, dass der Patient diejenige Hälfte des Raumes nicht
wahrnimmt, die auf der kontralateralen, das heißt der Hirnschädigung
gegenüberliegenden Seite liegt. Man nennt dieses Phänomen in der Fachsprache
Neglect oder Vernachlässigungsphänomen. Patienten mit dieser Störung haben
Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit in die vernachlässigte kontralaterale
Raumhälfte zu wenden und auf Reize aus dieser Raumhälfte adäquat zu reagieren.
Es besteht aber keine Lähmung. Ein Aufsatz in der Zeitschrift "Aktuelle
Neurologie" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart) wirft die Frage auf, ob bei
Neglectverhalten die Aspekte von Aufmerksamkeit und Absicht wirklich
voneinander getrennt werden können. Dies würde bedeuten, dass es sich dabei um
zwei Seiten einer Medaille handelt, dass also Aufmerksamkeit und Absicht auf
zwei verschiedenen neuralen Mechanismen beruhen. Neuere Ergebnisse deuten
ferner darauf hin, dass von einem grundlegenden Organisationsprinzip im Gehirn
auszugehen ist. Es existieren nämlich im Gehirn unterschiedliche
Repräsentationen für körpernahen und körperfernen Raum.
Patienten mit Neglect sind sich ihres Defizits
nicht bewusst. Im Gegensatz zur Lähmung wissen sie nicht, dass sie eine
Raumhälfte vernachlässigen, dass sie also eine Handlung nicht korrekt
initiieren und durchführen können, wenn sich diese in den kontralateralen Raum
hinein richtet. Dagegen zeigen sie eine verstärkte Tendenz, sich in der zur
Läsion gleichseitig gelegenen Raumhälfte verstärkt zu orientieren. Ein Patient
geht zum Beispiel nach rechts, obwohl er sein Ziel nur erreichen könnte, wenn
er nach links gehen würde. Diese Patienten erleiden eine Einschränkung der
aktiven Teilnahme am Alltag. Man unterscheidet im Wesentlichen zwei Varianten.
Viele Neglectsymptome können durch eine gestörte Aufmerksamkeit und eine
daraus resultierende verminderte bewusste Wahrnehmung für Objekte oder
verschiedene Reize im kontralateral zur Hirnläsion gelegenen Raum erklärt
werden. Bei anderen hingegen liegt eine Störung der adäquaten Reizantwort vor:
Der Reiz wird zwar wahrgenommen, aber die Handlung, die normalerweise durch
den Reiz ausgelöst würde, ist gestört. Erstere Variante stellt also ein
Problem der adäquaten Reizverarbeitung dar, bei letzteren liegt eine Störung
der motorischen Antwort vor. Die Patienten scheinen ein besonderes Maß an
bewusster Anstrengung zu benötigen, damit ihre betroffene Extremität ihren
Handlungsabsichten folgt.
Motorische Vernachlässigungsphänomene.
Akt Neurol 2005; 32; Nr. 10; S. 594-603.
Prof. Dr. med. Gereon R. Fink,
Universitätsklinikum Aachen.
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