Wenn Eltern ihre
Kinder vernachlässigen
Frühkindliche
Bindungsstörungen belasten oft ein Leben lang
Etwa ein Prozent aller Mädchen und Jungen ist von
frühkindlichen Bindungsstörungen betroffen. Wie die Deutsche
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP) mitteilt, leiden
die Kinder körperlich und seelisch unter einer mangelhaften oder stark
belasteten Beziehung zu ihren Eltern. Besorgnis erregend: Viele von
ihnen schleppen ihre Probleme durchs weitere Leben. Sie sind laut DGKJP
besonders gefährdet, psychiatrische Störungen im Jugend- oder
Erwachsenenalter zu entwickeln.
Wenn Eltern sich keine Zeit für ihr Kind nehmen, wenn sie es
vernachlässigen, ihm zu wenig Liebe und Geborgenheit zukommen lassen –
dann kann sich das sehr belastend auf die weitere Entwicklung auswirken.
„Eine unzureichende Betreuung in den ersten
Lebensjahren spielt eine entscheidende Rolle für das Auftreten von
Bindungsstörungen“, sagt Prof. Ulrike Lehmkuhl von der DGKJP.
Kinder, die sozial isoliert und vernachlässigt aufwachsen, entwickeln
unterschiedliche Symptome. Sie sind zum Teil extrem aggressiv, sowohl
sich selbst als auch anderen gegenüber. Der Kontakt zu Gleichaltrigen
ist gestört; gemeinsames Spielen, etwa im Kindergarten, klappt nur
selten. Darüber hinaus verhalten sie sich sehr ungewöhnlich gegenüber
Betreuungspersonen wie Erziehern oder Lehrern: Mal nähern sie sich an,
mal vermeiden sie von einem Moment zum anderen jeden Kontakt und lehnen
aufmunternde Worte strikt ab.
Unsicher und ängstlich
Experten unterscheiden zwei Varianten von Bindungsstörungen: Kinder mit
der gehemmten Form sind unsicher, ängstlich, übervorsichtig und geradezu
apathisch; Kinder mit der ungehemmten Form dagegen dauernd auf der Suche
nach Aufmerksamkeit. Sie knüpfen wahllos Kontakte, aus denen jedoch
keine engen, vertrauensvollen Beziehungen entstehen. Beiden gemeinsam
sind emotionale Auffälligkeiten wie Angst und Depressivität.
„Oftmals wurden die Kinder körperlich misshandelt oder sexuell
missbraucht“, erläutert Prof. Lehmkuhl. Weitere typische
Begleiterkrankungen können Untergewicht, Entwicklungsverzögerungen oder
sogar psychisch bedingter Kleinwuchs sein. „Entwicklungsverzögerungen
wie verspäteter Spracherwerb sind bei Kindern mit gestörtem
Bindungsverhalten beinahe die Regel. Von 137 in einer Studie
untersuchten Mädchen und Jungen wiesen 73 Prozent solche
Beeinträchtigungen auf.“
Stabile Umgebung schaffen
Therapieziel ist die Herstellung und Sicherung einer stabilen Umgebung,
in der das Kind Beziehungen aufbauen und sich möglichst ungestört
entwickeln kann. Dies kann auch die Herausnahme aus dem belastenden
Umfeld einschließen, wie Prof. Lehmkuhl erklärt. Dann wird die
Einschränkung des elterlichen Sorgerechts beantragt und das Kind in eine
stationäre kinderpsychiatrische Behandlung oder in eine
sonderpädagogische Pflegestelle gegeben. „Wichtig ist, dass die
Betreuung langfristig geplant und abgesichert ist und die Entwicklung
der Kinder nicht durch erneute Beziehungsabbrüche gefährdet ist.“
Bisher nur wenig erforscht ist, was später aus ihnen wird. Doch herrscht
unter den Experten der DGKJP Einigkeit, dass frühkindlich gestörtes
Bindungsverhalten vor allem bei misshandelten Kindern und Kindern aus
sozial schwachen Familien mit einem hohen Risiko für spätere psychische
Auffälligkeiten behaftet ist.
Die Ursachen
Die wichtigsten Gründe für das Auftreten von Bindungsstörungen sind ein
Mangel an Erziehung und verlässlichen Beziehungen, erklärt die DGKJP.
Die Entwicklung einer stabilen Bindung stellt eine Voraussetzung für
psychische Gesundheit dar. Je länger die belastende Situation andauert,
desto höher liegt der Anteil an Bindungsstörungen. Rumänische
Adoptivkinder, die über zwei Jahre ohne elterliche Bezugspersonen
lebten, waren in 30 Prozent der Fälle bindungsgestört. Und bei
besonderen Risikogruppen, etwa misshandelten Kindern, wurden erste
Symptome gar bei 80 Prozent der Mädchen und Jungen festgestellt.
Zwar ist der Einfluss des Umfelds entscheidend, doch sind auch
biologische Faktoren von Belang. So haben Hirnforscher festgestellt,
dass verschiedene sensorische Systeme beim Aufbau zwischenmenschlicher
Beziehungen beteiligt sind. Werden diese Systeme nicht ausreichend
stimuliert, stockt auch die neuronale Entwicklung – was wiederum das
Auftreten von Verhaltensstörungen begünstigen kann.
Quelle:
DKJP |