Es
gibt mindestens zwei Formen der Scham: eine dient der sozialen
Anpassung, die andere der Entwicklung von Individualität und der Wahrung persönlicher Integrität.
Scham ist ein Warnsignal. Sie verdeutlicht uns, dass unsere Konzepte von
der Welt, von anderen und von uns selbst nicht mit unseren momentanen
Erfahrungen übereinstimmen (Beispiel: Wenn man über eine vermeintlich
lustige Szene lacht, während alle anderen betreten schweigen, wird dies
mit hoher Wahrscheinlichkeit Scham auslösen). Scham lässt sich daher
auch als "Stachel" interpretieren, der uns dazu motivieren
kann, unsere Konzepte zu aktualisieren und andere Formen des Umgangs mit
der Realität zu entwickeln (Scham in Maßen kann daher sehr
kreativitätsfördernd sein!). Scham hat etwas sehr
"ernüchterndes": Sie kann uns aus "traumwandlerischer
Sicherheit" reißen. Scham und ihr Pendant "Stolz" dienen
dazu, den Kontakt (Nähe, Abstand) zu anderen zu regulieren. Manche
bezeichnen die Scham deshalb auch als "Schnittstelle" zwischen
uns selbst und anderen.
Ähnlich wie Angst gehört Scham vermutlich
zu denjenigen "Affekten", die es auch im Tierreich gibt. Beispiel: Wenn ein unterlegenes
Tier "den Schwanz einzieht" und "gesenkten Hauptes
davonschleicht", erinnert dies auffällig an menschliches
Verhalten. Scham kann als sehr schmerzhaft erlebt werden
("Peinlichkeit"). Durch Beschämen, Anprangern oder Demütigen
nutzen manche Menschen diese Wirkung der Scham, um andere zu bestimmten
Verhaltensweisen zu zwingen bzw. diese regelrecht zu beherrschen. Scham
bewacht unsere menschliche Würde (Wert). Sie schützt uns vor entwürdigendem
Verhalten und entwürdigenden Situationen.
Scham
ist ein Gefühl, das besonders viel mit Selbsterkenntnis
(Selbstbeobachtung, Selbstbewusstsein, Selbstgefühl) zu tun hat (ohne Scham gäbe
es möglicherweise kein Selbstbewusstsein und somit kein Menschsein). Mit Scham verbundene Prozesse
erzeugen
Individualität. Sie verdeutlichen Unterschiede zu anderen Menschen
und fördern so das
Gefühl eigener Identität. Die biblische Geschichte von
der Vertreibung aus dem Paradies beschreibt diese Erfahrung
symbolisch: Adam und Eva fühlten sich im "Paradies"
eins mit der Welt und schämten sich nicht für ihre Nacktheit. Erst als
sie verbotenerweise einen Apfel vom "Baum der Erkenntnis"
aßen, erkannten sie den Unterschied zwischen gut und böse. Zugleich
wurden sie sich ihrer Nacktheit bewusst. Sie schämten sich, bastelten sich einen Lendenschurz und versteckten sich vor Gott, der sie
schließlich aus dem Paradies vertrieb. Diese
"Menschheitsgeschichte" verdeutlicht, dass Scham mit einer
Erfahrung von Schwäche beginnt (der Versuchung nicht standzuhalten, Idealen nicht zu genügen).
Sie verhilft dazu, Unterschiede wahrzunehmen (Beispiel: gut und böse)
und sich der eigenen Person (Beispiel: Nacktheit) bewusst zu werden. Sie
motiviert zu kreativen Leistungen (Basteln des Lendenschurzes), aber
auch dazu, sich zu verstecken. Nicht zuletzt hat Scham mit Unterwerfung
und Bestrafung zu tun (verdeutlicht an der Vertreibung aus dem
Paradies).
Scham ist nichts Krankhaftes. Im
Gegenteil: In maßvollem Umfang fördert sie die Fähigkeit, sich in
andere zu versetzen und zu fühlen, was diese vermutlich empfinden. Zu
einem Problem bzw. einem Auslöser von "Krankheit" wird Scham
erst dann, wenn es an ihr mangelt
oder sie im Übermaß vorhanden ist. Wie bei den meisten Phänomenen
kommt es auf ein "Optimum" und nicht auf ein Maximum oder
Minimum an. Wer sich zu sehr schämt, ist offenbar außerstande,
wahrgenommene Unterschiede zu ertragen. Den Betroffenen mangelt es an
"Stolz" auf ihre "Eigenarten".
Scham kann Ausdruck der Schwierigkeit sein, sich als "selbstbewusst"
und damit als getrennt von der übrigen
Welt zu erleben und zugleich die fortbestehende (animalische) Abhängigkeit von der Natur
zu akzeptieren. Scham bezieht sich besonders häufig auf animalische
Vorgänge, wie Verdauung, Urinieren, Nahrungsaufnahme und
Sexualität. In dieser Hinsicht gibt es entsprechend viele gesellschaftliche Ideale, etwa
Reinlichkeitserziehung und
Impulskontrolle. Menschen mit Scham ersehnen und befürchten zugleich, in ihrer Besonderheit
erkannt und akzeptiert zu werden. Angesichts der getragenen Masken fragen sie
sich oft, ob sie wirklich gemeint sind, wenn sich andere mit ihnen
befassen.
Scham findet sich häufig im Zusammenhang
mit Interesse und Neugier (Freude), wobei sie dann meist
"ernüchternd" und hemmend wirkt
(Sie verhindert, dass man allzu euphorisch aus der Reihe tanzt). Scham
ist stark mit Sehen und Gesehen werden verbunden (deswegen würden
manche Scham-Betroffene am liebsten "im Boden versinken", um
nicht gesehen zu werden). Umgekehrt ist "Sich zeigen, wie man
ist", eine der wirksamsten Methoden, Scham zu verringern. Sehr häufig tritt Scham in Situationen auf,
in denen man anderen unterlegen ist bzw. sich ohnmächtig fühlt
("Unterlegenheitsscham"). Dieser Umstand dürfte erklären,
warum sich manche Vergewaltigungsopfer scheuen ("schämen"),
den Täter oder zumindest das Verbrechen anzuzeigen. Sehr häufig findet
man in solchen Situationen auch "stellvertretende Scham",
nämlich dann, wenn der Täter ein naher Angehöriger oder eine wichtige
Bezugsperson ist. Für diese Person schämt man sich, weil man sich mit
ihr identifiziert oder weil man sich für die Beziehung zu ihr schämt.
"Unterlegenheitsscham" empfinden auch viele Patienten, wenn
sie sich erstmals an einen Psychotherapeuten aufsuchen. In ihrem Erleben
räumen sie ihre Hilflosigkeit bzw. Ohnmacht ein bei dem Versuch, ihren
Alltag erfolgreich zu bewältigen.
Scham wird mit sehr unterschiedlichen Begriffen umschrieben, wie Peinlichkeit, Schüchternheit,
Gehemmtheit, Verlegenheit, Scheu oder
Verschämtheit. Die Gesellschaft benutzt die Scham als Mittel, um
Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen zu veranlassen (angefangen von
der Aufforderung "schäm Dich" über der Strafandrohungen
einer Schule "Dann musst Du in der Ecke stehen" bis hin zu
subtilen Manipulationen in der Werbung, wenn man sich für ein weniger
gutes Waschergebnis schämen soll). Der Inhalt von Scham ist kulturell
abhängig und verändert sich im Lauf der Geschichte: Während man sich
früher mehr für Sexualität und Nacktheit schämte, stehen heute
andere Auslöser von Scham im Vordergrund, wie "Arbeitslosigkeit",
Alterserscheinungen bzw. Schönheitsideale (Modellfigur,
Waschbrettbauch) oder Mangel an Statussymbolen (wie etwa
Markenbekleidung) und Leistungsfähigkeit (am Arbeitsplatz wie auch im
Bett).
Scham
ist ein Gefühl, das sich auf die ganze Person bezieht. Die
Betroffenen haben den Eindruck, „als die, die sie sind, oder so,
wie sie sind, nicht in Ordnung zu sein“. Insofern unterscheidet sich
Scham von der „Schuld“, gegen die man etwas tun kann („Buße“)
und bei der man das Gefühl hat, zumindest teilweise Herr oder Frau
der Situation zu sein (Schuld entsteht durch eigenes Verhalten,
das meist von einem selbst kontrolliert werden kann
und deshalb veränderbar erscheint). Dagegen scheinen bei
der Scham andere Personen wesentlich beteiligt zu sein. Man schämt sich
immer vor einem anderen - auch wenn man sich vor sich selbst schämt: Im
letzteren Fall schämt man sich, weil man Idealen nicht gerecht wird,
die man von wichtigen anderen Personen (Eltern, Lehrer) übernommen und
verinnerlicht hat (man schämt sich dann vor den verinnerlichten
Bildern oder Stimmen der erwähnten Personen, also dem "inneren
Beobachter"). Während Schuld sich nur auf
das „Tun“ bezieht, wird Scham auf die ganze Person bezogen. Es
ist deshalb vergleichsweise schwieriger, sie loszuwerden. Scham kann
so unerträglich werden, dass Menschen an Selbstmord denken oder sich
sogar das Leben nehmen. Manche Scham-Betroffene "hassen sich"
regelrecht.
Scham kann sich in vielen Masken zeigen
(am häufigsten vielleicht in Form von "Angst").
Aus Angst, in ihrer Eigenart nicht angenommen zu werden, nehmen Menschen
oft bereitwillig "Rollen" an (dazu kann auch die
Patienten-Rolle gehören). Um sich die Zuneigung wichtiger
Bezugspersonen zu erhalten, können sie sich fast völlig den
Erwartungen dieser Menschen anpassen und so ein "falsches
Selbst" annehmen. Als Preis müssen sie hinnehmen, dass ihnen ein
Gefühl von Identität oft fehlt. Andere Masken der Scham sind - wie
erwähnt - Essstörungen, Depression, Sucht,
narzisstischen Persönlichkeitsstörungen, Hypochondrie und
Zwangsstörungen. Insbesondere Perfektionismus soll oft verhindern,
"dass man sich Blößen zeigt" (also schämt). Bei der
Hypochondrie sucht man beharrlich nach einem "körperlichen
Makel" (mit dem es sich mitunter leichter leben lässt als mit
Scham). Auch hinter Zynismus kann der Versuch stecken, Scham zu
verbergen. Viele Schambetroffene fühlen sich "minderwertig".
Um Schamgefühle zu
bewältigen, verhalten sich manche Menschen oft so, dass ihr Verhalten
andere beschämt (etwa durch schockierend provozierendes Auftreten). So
zwingen sie die Umwelt dazu wegzublicken (statt selbst aus Scham den
Blick zu Boden zu richten). Auch "Schamlosigkeiten in
Talkshows" kann ein solcher Verarbeitungsmechanismus zugrunde
liegen, wobei ein Millionenpublikum an Zuschauern ein Gefühl von Bedeutsamkeit
verleiht und Minderwertigkeitsgefühle kompensiert. Verdeckte Scham ist
mitunter daran zu erkennen, dass man in der Gegenwart
des Betreffenden selbst Schamgefühle entwickelt (indem man sich zum
Beispiel nicht mehr traut, gewisse Dinge anzusprechen).
Psychotherapeuten sprechen in diesem Zusammenhang von
"Gegenübertragungsgefühlen".
Menschen,
bei denen früh im Leben Scham ausgelöst wurde, werden von dieser
oft dauerhaft beherrscht: Die Betroffenen werden regelrecht von der
Wahrnehmung durch andere „abhängig“. Sie sind nicht, was sie fühlen
oder machen, sondern was andere über sie aussagen oder ihnen
zuschreiben. Ob ihr Körpergewicht zu ihnen passt, entscheidet nicht
das eigene Gefühl, sondern die Zahl auf der Waage. Sie essen, weil
es 2 Uhr ist, und nicht weil sie Hunger haben. Das Denken wird von
der mächtigen Frage beherrscht: „Was andere wohl von mir
denken?“ Je häufiger ein Mensch sich diese Frage stellt, umso stärker
scheint Scham bei ihm zu wirken.
Schambetroffenen
fehlt nicht nur das „Selbstwertgefühl“ (im Vergleich zu
anderen erleben sie sich als mangelhaft oder minderwertig), oft
fehlt ihnen jegliches „Selbstgefühl“. So fällt es ihnen
schwer, ihr eigenes Befinden wahrzunehmen, zu beschreiben und
anderen mitzuteilen. Sie können sich nicht gut selbst spüren. Statt
dessen berufen sie sich auf Untersuchungsergebnisse oder
Beobachtungen anderer. Oft beschreiben sie ihre Erfahrungen und
Einstellungen mit „man“ („Man macht...“, „Man
sagt....“). Darin spiegelt sich wider, dass die so sprechenden
sich selbst wenig wahrnehmen und ihr Denken und Erleben an äußeren
Vorgaben orientieren („Mein Mann will das so.....“), statt zu
den eigenen Bedürfnissen zu stehen. Paradoxerweise sind Menschen
mit übermäßiger Scham Meister der Selbstbeobachtung, was leider
ihr Selbstwertgefühl nicht stärkt.
Diese
Selbstwahrnehmungsstörung bahnt den Weg zu „psychosomatischen“
Erkrankungen. Typisch dafür ist die Schwierigkeit, den Zusammenhang
zwischen körperlichen Symptomen und der eigenen „Persönlichkeit“
(„Psyche“) zu erkennen. Für „psychosomatische“ Symptome ist
kennzeichnend, dass es sich um Symptome handelt, wie man sie
normalerweise auch im Zusammenhang mit starken Gefühlen erlebt.
Beispiele: 1. Herzrasen, Schweißausbruch und Zittern bei Angst, 2.
Erröten, Stottern und Schwindel bei Scham. 3. Muskelverspannungen,
Kopfschmerzen und Bluthochdruck bei Ärger und Wut. Die Betroffenen
erleben ihren Körper gleichsam als etwas Fremdes, dessen Verständnis
ihnen fehlt und das wie ein Gebrauchsgegenstand repariert werden
muss. Natürliche, oft sogar hilfreiche Gefühlssignale
interpretieren sie als körperliche Erkrankungen. Oft haben sie
große Schwierigkeiten, ihre Gefühle überhaupt wahrzunehmen oder zu
beschreiben. Manchmal spüren sie sich nur, wenn sie an die Grenzen
gehen (lebensgefährliche Erfahrungen, Thrill-Erlebnisse).
Vor
dem Hintergrund „kränkender“ Erlebnisse (s. Abschnitt
über Ursachen der Scham) leidet leider oft auch die Fähigkeit, Freude oder Stolz zu
empfinden. Anscheinend misstrauen Schambetroffene diesem Gefühl
besonders. Im
Zustand der Freude erlebt man sich meist „im Einklang mit der
Welt“, dagegen ist für schamerzeugende Erlebnisse typisch,
dass sie mit Diskrepanzen (andersartiges Erleben auf Seiten der
Umwelt) verbunden sind.
Schamkranken blieb gleichsam „Übereinstimmungsglück“ versagt.
Dies mag daran liegen, dass Scham oft in Situationen ausgelöst wird, in
denen ein freudig erregter Zustand von anderen nicht geteilt wird. Das Bedürfnis nach seelenverwandter Zweisamkeit stößt
auf Unverständnis oder gar Ablehnung. Man fühlt sich
ausgeschlossen und einsam.
Scham
kann in eine Depression münden, wenn der Organismus diese als
Notbremse zieht, um krankmachendem Denken, Erleben und Verhalten
einen Riegel vorzuschieben. Möglicherweise kann man auch Zwänge
eher den Schamkrankheiten zuordnen, da Zwänge ebenfalls viel mit
Autonomie, Ohnmacht und grundlegendem Zweifel an der eigenen
Wahrnehmungsfähigkeit zu tun haben.
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