Die hier zeitgleich zur
Behandlung dokumentierte Therapie ist zugleich typisch und atypisch für
Patienten mit depressiven Symptomen, insbesondere wenn Scham dabei eine
Rolle spielt. Sie ist insofern typisch, als sie das
immer wiederkehrende Leiden (insbesondere auch an der eigenen Person)
veranschaulicht, phasenweise zäh wirkt und "dramatischer" äußerer Spuren ermangelt.
Das Geschehen spielt sich überwiegend auf der inneren Bühne ab und die
Entwicklung verläuft in kleineren, meist wenig spektakulären Schritten
(dennoch merkt auch die Umwelt Veränderungen).
Untypisch ist die
beschriebene Behandlung aus vielerlei Hinsicht: Herr X ist ein
außergewöhnlich kooperativer Patient (was nicht zum klassischen Bild des
antriebslosen depressiven Menschen passt). Er ist äußerst differenziert,
schon sehr therapieerfahren und extrem zur Mitarbeit motiviert. Er trägt
die Kosten der Behandlung komplett selbst. Mit nur 15 Sitzungen bleibt die
Behandlung formal deutlich unter dem Umfang einer klassischen "Kurzzeitherapie"
(5 Vorgespräche + 25 reguläre Sitzungen) zurück. Durch das Experiment des
"Life-Therapie-Tagebuches" ist das "investierte Engagement" natürlich
weitaus größer. Jeder normalen Therapiestunde folgt mindestens eine
weitere Stunde "schriftlicher Aufarbeitung" (auch von Seiten des
Therapeuten!). Dies ist in der Praxis normalerweise nicht möglich, so dass
unser Experiment kaum Schule machen wird. Andererseits ist es eine
Einladung an Patienten und Therapeuten, auch die Zeit zwischen zwei
Therapiesitzungen aktiv und konstruktiv zu nutzen. Denn wesentliche
Veränderungen finden weniger im "künstlichen Umfeld" des Therapieraums,
sondern im Alltag statt.
Untypisch an der
beschriebenen Behandlung ist, dass sie gleichsam unter den Augen der
Öffentlichkeit erfolgte. Sowohl Herr X als auch ich wussten, dass wir
"beobachtet" und "beurteilt" werden. Dies schränkte uns sicherlich ein, da
wir nicht alles - was gedacht und gefühlt wurde - unbedingt der
Öffentlichkeit zugänglich machen konnten. Auch standen wir unter einem
gewissen "Leistungsdruck", da wir natürlich mit unserer Zusammenarbeit ein
gutes Ergebnis erzielen wollten.
Zu den besonderen
Wirkungsfaktoren unserer außergewöhnlichen Vorgehensweise gehört
vermutlich der Umstand, dass diese Form des sich öffentlich Zeigens und
sich öffentlich Entwickelns geeignet erscheint, Selbstakzeptanz zu fördern
und Scham abzubauen.
Für
Therapie-Neulinge erscheint mir folgender Hinweis sehr wichtig: Der Ablauf
dieser Therapie ist NICHT repräsentativ für "klassische Psychotherapie",
die ja immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgt. Die hier
vorgestellten Sequenzen sind aus behandlungstechnischer Sicht am ehesten
für eine "kognitive Therapie" repräsentativ. Was die wiedergegebenen
Protokolle auf jeden Fall auch veranschaulichen ist die wichtige Rolle der
"therapeutischen Beziehung", die einen wesentlichen Beitrag zur Wirkung
von Psychotherapie leistet. Zwischen Herrn X und mir besteht zweifelsfrei
eine ausgezeichnete Beziehung, die sich dadurch auszeichnete, dass wir uns
mit großem Respekt und Vertrauen begegneten und intensiv umeinander
bemühten. Viele der eingestreuten Kommentare sind hoffentlich auch
unabhängig von der hier vorgestellten Therapie hilfreich.
Herrn X danke ich sehr
für seine Bereitschaft, seine Entwicklung öffentlich zu machen, und für
seine Konsequenz beim Schreiben seines Tagebuchs. Ich wünsche ihm, dass ihm die
dabei gesammelten Erfahrungen dauerhaft zugute kommen und ihm weitere
Lebensmöglichkeiten erschließen.
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