CAVALLO:
Warum brauchen Menschen überhaupt Vorbilder?
Dr. Mück:
Vom Augenblick seiner Geburt an lernt jeder von uns
automatisch am Vorbild. Dabei ist „Lernen durch Nachahmung“ vermutlich die
wirksamste und dadurch wohl wichtigste Lernform überhaupt. Wenn wir die
Dialekte unserer Umwelt übernehmen, ähnlich bedächtig wie unsere Eltern
sprechen oder uns in ähnlichen Körperhaltungen wie sie durch die Welt
bewegen, liegt dem immer eine gehörige Portion „Nachahmung von Vorbildern“
zugrunde. Selbstverständlich spielt daneben auch Veranlagung eine Rolle.
Heute wissen wir, dass es in unserem Gehirn sog. Spiegelnervenzellen gibt,
die – bildhaft gesprochen - wie ein Videorekorder funktionieren und
begierig Informationen aus der Außenwelt aufzeichnen und speichern. In den
an der Aufzeichnung beteiligten Nervenzellen spiegelt sich gleichsam die
Außenwelt wider, wobei dieser Vorgang die Nervenzellen verändert und damit
dauerhafte Spuren in unserem Gehirn hinterlässt. Die verbliebenen Spuren
stehen uns dann bei Bedarf als konkrete Regieanweisung zur Verfügung. Mit
deren Hilfe können wir uns ähnlich verhalten, wie es bei den
Lebensvorgängen der Fall war, auf die wir unsere Aufmerksamkeit gerichtet
hatten. Wenn wir also eine Person beobachten, die besonders erfolgreich
mit der Welt umgeht, fertigen wir gleichzeitig in unserem Gehirn eine Art
Film an, die wir anschließend mehr oder weniger gut nachspielen können.
Ohne diesen Mechanismus und ohne entsprechende Vorbilder wären wir
ziemlich hilflos, da uns dann eingespeicherte Verhaltensprogramme für den
Umgang mit der Welt fehlen würden. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn,
über möglichst viele und zugleich Vorbilder zu verfügen. Dann sind wir für
die Wechselfälle des Lebens bestens gerüstet.
CAVALLO:
Welche Funktion haben Vorbilder für Psyche und Leistung?
Dr. Mück:
Die „menschliche Psyche“ ist nicht etwas, das uns von vornherein fix
vorgegeben ist und anschließend allenfalls noch geringfügig verändert
werden kann. Vielmehr wird „Psyche“ besonders im Verlauf der ersten
Lebensjahre regelrecht aufgebaut, wobei Vorbilder wichtige Bausteine sind:
Sie zeigen uns auf, wie man mit der Welt und ihren Möglichkeiten und
Problemen umgehen kann. Der menschliche Reifungsprozess unterscheidet sich
hier enorm vom Tierreich, wo die wichtigsten Verhaltensmuster schon
relativ bald nach der Geburt fertig entwickelt zur Verfügung stehen. Die
langjährige und biologisch sehr aufwändige menschliche Reifung hat den
Vorteil, dass sich die Psyche der Menschen schon von Generation zu
Generation auf völlig neue Umweltbedingungen einstellen kann. Die
Menschheit als ganze ist also extrem anpassungs- bzw. entwicklungsfähig.
So sind meine Großeltern im Kaiserreich mit der Pferdekutsche und den
ersten Eisenbahnen aufgewachsen, durchlebten meine Eltern eine Diktatur
und eine beginnende Demokratie, in der sie sich neu mit Radio, Autos,
Flugzeugen und Telefon zu befassen hatten, konnte ich selbst in einem
geteilten und neu vereinigten Deutschland die erste Landung auf dem Mond
mitverfolgen und mich auf eine computerisierte Welt einstellen, wurden
meine eigenen Kinder mit Multikanal-Fernsehen, Computer und Handy groß,
während meine Enkelkinder in eine längst globalisierte und zunehmend
virtuellere Welt hineingeboren werden. All dies gelingt uns mit einem
Nervensystem, das nach wie vor auf einfachere Lebensverhältnisse angelegt
ist. Heranwachsende verinnerlichen den aktuellen Stand der Welt bzw. der
Art und Weise mit dieser umzugehen insbesondere dadurch, dass sie sich an
Vorbildern orientieren. In unserer Leistungsgesellschaft zeichnen sich
relativ viele potenzielle Vorbilder durch erfolgreiche Leistung aus. Wer
sich an ihnen orientiert, wird deshalb oft ebenfalls gerne Leistung
erbringen. Wer sich dagegen einen Musiker zum Vorbild nimmt, der für
seinen Drogenkonsum und einen lässigen Lebensstil bekannt ist, wird sich
eher mit dessen Eigenschaften identifizieren und auf Dauer nicht zu den
Leistungsträgern unserer Gesellschaft rechnen.
CAVALLO:
Welche Menschen (Alter, Geschlecht, sozialer Status, Lebenssituation) sind
besonders empfänglich für den Einfluss positiver oder negativer Vorbilder?
Dr. Mück:
Je jünger man ist, umso empfänglicher ist man für den Einfluss von
Vorbildern. Unser am Beginn des Lebens noch relativ „unparteiisches“ und
offenes Gehirn saugt neue Informationen hungrig ein. Diese hinterlassen
dann allerdings unmittelbar Spuren, die zeitlich später eintreffenden
Informationen den Zutritt erschweren. Bevorzugt werden dann vor allem
solche Informationen aufgenommen, die zu den bereits vorhandenen passen.
Deswegen liefern uns frühe Vorbilder oft lebenslang Orientierung und kann
es sehr schwer fallen, auf ein gänzlich gegensätzlich wirkendes Vorbild
umzuschwenken. Was die Auswahl von Vorbildern betrifft, ist es so, dass
sich die meisten Menschen zu Beginn ihres Lebens nahe stehende Personen
aus der eigenen Familie zum Vorbild nehmen. Später wählt man sich dann
vermehrt Personen des eigenen Geschlechts aus. Wer außerdem noch in den
Rang eines Vorbilds aufsteigt, hängt von der jeweiligen Lebenssituation
ab. So können Lehrer, Chefs oder Trainer ebenso Vorbilder bzw. Idole für
uns werden wie Filmschauspieler, Politiker oder Künstler. Wenn wir dann
auch noch in Gruppen leben oder aufwachsen, die sich mehrheitlich für ein
Idol begeistern, kann uns dies anstecken (siehe die erwähnten
Spiegelnervenzellen). Allein schon aufgrund der „Ansteckung“ können wir
uns dann ebenfalls von dem betreffenden Vorbild in den Bann ziehen lassen.
CAVALLO:
Inwiefern kommt Vorbildern im Bereich Sport eine besondere Rolle zu?
Dr. Mück:
In unser immer bewegungsärmer werdenden Zivilisation sind sportliche
Vorbilder ein wichtiger Garant von Gesundheit und Bewegungsfreude. Sie
können uns motivieren, trotz eines Hangs zur Bequemlichkeit weiter aktiv
zu bleiben und regelmäßiger körperlicher Aktivität nachzugehen. Außerdem
leben sie uns vor, welcher Mühe, Ausdauer und Schwierigkeiten es bedarf,
um im Leistungssport Erfolge zu erzielen. Ein Glücksfall ist es, wenn
Vorbilder im Sport auch außerhalb des Sports durch ihre Persönlichkeit und
Lebensführung überzeugen. Dann strahlt ihr Vorbild auf viele
Lebensbereiche aus. In der Prävention macht man sich dies in Form von
Kampagnen zunutze, in denen sich Leistungssportler beispielsweise für
Fairness oder Drogenverzicht stark machen.
CAVALLO:
Müssen Vorbilder perfekt sein, oder dürfen sie auch
Schwächen/Unzulänglichkeiten haben; sind solche Schwächen vielleicht sogar
wichtig für die Identifikation mit einem Idol?
Dr. Mück:
Vorbilder sollten auf jeden Fall so menschlich wie möglich sein, also
alles andere als „perfekt“ wirken. Sonst ist die Frustration
vorprogrammiert. Denn solchen Vorbildern kann man ja nie gerecht werden
kann. Vielleicht erklärt sich so das Bemühen mancher Medien, die sich auf
das Aufdecken von Skandalen Prominenter regelrecht spezialisiert haben.
Sie erzielen hohe Umsätze, indem sie die meisten Idole von ihren Podesten
holen und als Normalsterbliche erscheinen lassen. Indem sie deren
Schwächen und Probleme dokumentieren, verschaffen sie dem Zuschauer oder
Leser Erleichterung, mitunter vielleicht sogar Genugtuung. Denn im
Vergleich zum Idol muss sich der Betreffende nicht mehr so winzig oder gar
als Versager fühlen. Wer Ähnlichkeiten mit einer bewunderten Person wieder
erkennt, wird sich leichter mit dieser identifizieren. Allein schon unter
diesem Gesichtspunkt ist es sicher förderlich, wenn Vorbilder als Menschen
mit Schwächen und Unzulänglichkeiten erscheinen. Ein Weiteres und
vermutlich noch Wichtigeres kommt hinzu: Indem solche Menschen zeigen,
dass sie trotz Schwächen und Unzulänglichkeiten Vorbildhaftes
leisten, werden sie letztendlich erst zum realistischen Vorbild. Die
Erkenntnis, dass einem perfekten und 100 Prozent gesunden Strahlemann oder
einer Strahlefrau vieles zufliegt, motiviert einen Menschen weniger, da
ihm ja die meisten dieser Grundlagen offensichtlich fehlen. Entsprechend
größer ist die Motivation, wenn uns Vorbilder vorleben, was man trotz
Schwierigkeiten langfristig bewirken kann. Vor diesem Hintergrund erklärt
sich die von manchen Sportlern ausgehende Faszination, wie etwa dem
Radrennfahrer Lance Armstrong, der nach einer schweren Krebserkrankung
Spitzenleistungen erbrachte. |