Leipziger Max-Planck-Forscher präsentieren einzigartige Dokumentation
der weltweiten Sprachenvielfalt / Ausmaß an Grammatikentlehnung zwischen
Sprachen überraschend
Grammatik ist eine trockene und
komplizierte Materie, und die Vielfalt der unterschiedlichen
Lautstrukturen und Satzbaumuster in den Sprachen der Welt ist so groß,
dass kein einzelner Wissenschaftler den Überblick behalten kann. Doch zu
einem tieferen Verständnis der menschlichen Sprachfähigkeit ist
gründliches Wissen über Sprachunterschiede und Sprachuniversalien
unabdingbar. Eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für evolutionäre
Anthropologie hat nun ein monumentales Werk vorgestellt, das bisherige
Forschungen tausender Einzelsprachforscher in völlig neuartiger Form
zugänglich macht: Den "Weltatlas der Sprachstrukturen", der auf 142
farbigen Weltkarten die geografische Verteilung von sprachlichen
Strukturvariablen auch für Laien anschaulich zeigt. Mitgeliefert wird
eine interaktive CD-ROM, mit deren Hilfe der Benutzer eine Vielzahl von
Hypothesen überprüfen und eigene Karten generieren kann. Dieser
Datenschatz wird die vergleichende Sprachwissenschaft auf eine neue
Grundlage stellen. Schon jetzt zeichnet sich eine überraschende
Erkenntnis ab: Strukturmerkmale sind viel stärker geografisch bedingt
als bisher angenommen.
Von den etwa
7.000 zur Zeit noch gesprochenen Sprachen sind 2.560 im "Weltatlas der
Sprachstrukturen" vertreten, allerdings pro Weltkarte "nur"
durchschnittlich 400. Das liegt daran, dass nur ein paar hundert
Sprachen wirklich gut beschrieben sind, während wir von den übrigen
bisher nur fragmentarische oder gar keine Kenntnisse haben. 6.800
Quellen wurden von einem 50-köpfigen Autorenteam unter der Leitung von
Prof. Dr. Martin Haspelmath, Dr. David Gil und Prof. Dr. Bernard Comrie
(in Zusammenarbeit mit Prof. Matthew Dryer, University at Buffalo)
ausgewertet. Auf den Karten des Atlasses herrscht Gleichberechtigung:
Jede Sprache, egal wie viele Sprecher sie hat, wird durch ein
Kreissymbol dargestellt. Für die Sprachwissenschaftler sind kleine, zum
baldigen Aussterben verurteilte Sprachen ebenso interessant wie die
großen Nationalsprachen.
Der Atlas gibt Auskunft über verschiedenste Strukturvariablen, z.B.
Anzahl der Konsonanten (zwischen 6 und 122), Vorhandensein von seltenen
Lauten wie ö und ü, Unterscheidung von Tönen, Genus-Kategorien,
Pluralbildung, Anzahl der Kasus, Zukunfts- und Vergangenheitsformen am
Verb, Imperativ, Wortstellung, Passivkonstruktionen, Zahlwörter,
Farbadjektive, Schriftsysteme.
Für einige gut beschriebene Variablen, wie z.B. die Wortstellung (Verb-Objekt
oder Objekt-Verb, Adjektiv-Substantiv oder Substantiv-Adjektiv), zeigen
die Karten mehr als tausend Sprachen. Über die Art der
Relativsatzbildung dagegen sind Informationen schwerer zu bekommen, so
dass die entsprechenden Karten nicht einmal zweihundert Sprachen zeigen.
Die beiden Karten zur grammatischen Struktur von Gebärdensprachen in
aller Welt zeigen nur 35 Sprachen, da die vergleichende Erforschung von
Gebärdensprachen erst in den Kinderschuhen steckt.
Fast auf jeder Karte sticht sofort ins Auge, dass die geografische
Verteilung nicht zufällig ist. Sprachen mit ö und ü kommen praktisch nur
im nördlichen Eurasien vor (von Paris bis Peking), aber nicht südlich
des Himalaya. Die komplexen Laute gb und kp gibt es nur in West- und
Zentralafrika. Sprachen mit Wortstellung Substantiv-Genitiv ("das Haus
des Vaters") kommen in Afrika, Europa, Südostasien und Mittelamerika
vor, während sonst die Wortstellung Genitiv-Substantiv ("des Vaters
Haus") überwiegt. In den Sprachen Eurasiens und des nördlichen Afrikas
sagt man durchweg "Ich gebe ihm das Essen", während in Australien und
Amerika die Struktur "Ich gebe ihn mit Essen" verwendet wird.
Dies ist ein überraschendes Ergebnis. Seit ihrer Begründung im 19.
Jahrhundert hat die vergleichende Sprachwissenschaft Ähnlichkeiten
zwischen Sprachen in erster Linie auf gemeinsame Abstammung aus einer
rekonstruierten Ursprache zurückgeführt. Die Karten des Weltatlas der
Sprachstrukturen zeigen nun deutlich, dass die Struktureigenschaften
weitgehend geografisch homogen sind, d.h. dass Sprachen viele
Gemeinsamkeiten mit benachbarten Sprachen haben, die nicht unbedingt mit
ihnen verwandt sind. So zeigt etwa das Hindi, das mit den germanischen,
romanischen und slawischen Sprachen in Europa verwandt ist - alle gehen
auf eine indoeuropäische Ursprache zurück, die vor etwa 6000 Jahren
gesprochen wurde - frappierende Ähnlichkeiten mit dem (nicht verwandten)
Tamil und anderen Sprachen der dravidischen Sprachfamilie in Südindien.
Und das Finnische gleicht seinen (nicht verwandten) Nachbarsprachen
Schwedisch und Russisch viel mehr als seinen entfernten Verwandten in
Sibirien.
Solche Gemeinsamkeiten müssen auf Übernahme von Strukturmustern aus
benachbarten Sprachen beruhen. Dass überall Wörter aus Nachbarsprachen
entlehnt werden, ist seit langem hinlänglich bekannt, aber das Ausmaß
der Grammatikentlehnung ist überraschend. Die Mechanismen solcher
Entlehnungen sind noch nicht ausreichend bekannt und stellen eine
Herausforderung für die zukünftige Forschung dar.
Auch für die Erforschung der grundlegendsten kognitiven, möglicherweise
auch teilweise angeborenen Strukturen der menschlichen Sprachfähigkeit
sind die Daten des Atlasses von großer Bedeutung. Viele der beobachteten
sprachlichen Universalien bestehen in Korrelationen zwischen logisch
unabhängigen Variablen. Bislang ist viel über solche Korrelationen
gemutmaßt worden, aber die Datenbasis war meistens zu dünn für
zuverlässige Schlußfolgerungen. Die auf der interaktiven CD-ROM
mitgelieferte Datenbank erlaubt es dem Benutzer jetzt, beliebige
Variablen miteinander zu verknüpfen und nach Korrelationen zu suchen.
Quelle: www.mpg.de |