Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie, Coaching, Mediation u. Prävention
Dr. Dr. med. Herbert Mück (51061 Köln)

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Wie viel Depression erhält gesund?

von Dr. Dr. med. Herbert Mück, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Köln

Möglicherweise sind leichtere depressive Symptome mitunter genau so gesund und lebenserhaltend, wie es („natürliche“) Angst sein kann. Erst ihre Über- oder Dauerdosis macht „krank“. Diese eher unübliche Betrachtungsweise entfalten unabhängig voneinander S. B. Patten in der Zeitschrift Medical Hypothesis und R. Nesse in der Zeitschrift Archives of General Psychiatry.

    Patten unterscheidet zwischen „depressiven Symptomen“ und „depressiven Störungen“. Erst wenn depressive Symptome einen bestimmten Schweregrad erreichen und eine definierte Mindestzeit anhalten (siehe ICD 10 oder DSM IV), werden sie zu einer Störung von Krankheitswert. Unterhalb dieser Grenze lassen sich depressive Symptome dagegen als nützliche Signale oder Ausdruck beginnender Anpassung interpretieren. Sie teilen dem Betroffenen bzw. seiner Umwelt mit, dass der „Bedrückte“ unter Druck steht, weil er und seine Umwelt in bestimmten Punkten nicht mehr harmonieren. Solche „stressigen“ Diskrepanzen sind in der heutigen Zeit mit ihren rasanten gesellschaftlichen Veränderungen fasst schon „normal“. Passen sich der Betroffene oder die Umwelt erneut wechselseitig an und funktioniert das Zusammenspiel zwischen den Beteiligten wieder, lösen sich die depressiven Symptome häufig auf.

    Depressive Symptome signalisieren möglicherweise nicht nur die Notwendigkeit einer Veränderung, darüber hinaus scheinen sie auch erforderlicher Teil eines Anpassungsprozesses zu sein. So wirkt ihr Fehlen mitunter krankhaft, etwa wenn jemand nach dem Tod einer wichtigen Bezugsperson keinerlei depressive Symptome („Trauer“) entwickelt. Sogenannte Abwehrmechanismen (Verleugnung, Rationalisierung, Affektabspaltung) verzögern oder verhindern dann die erforderliche Anpassung.

Gesunde Effekte von Depressionen

    Einige typische depressive Symptome (Antriebshemmung, Verlangsamung, Interessenverlust, Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen) lassen sich auch als sinnvolle psychosoziale „Bremse“ interpretieren. Letztere erspart es dem Betroffenen, weiterhin „ungehemmt“ Verhaltensweisen und Denkmuster zu praktizieren, die nicht mehr zur aktuellen Lebenssituation passen. Sie ziehen den „Depressiven“ gleichsam aus dem (sozialen) Verkehr, wo ihm mit seiner bisherigen Fahrweise ständige Unfälle drohen. In einer völlig überfordernden Umwelt oder angesichts aussichtsloser Ziele versetzen sie den Betreffenden in eine Art „Winterschlaf“, wobei das damit verbundene Bild von Hilflosigkeit bei anderen Helferinstinkte ansprechen kann. Je mehr Erwartungen und Leistungsvermögen auseinander klaffen, um so mehr sinkt die Stimmung bzw. stellen sich depressive Symptome ein. Depressionen sind nach dieser Betrachtungsweise also keine „Defekte“, sondern gesunde Abwehrmechanismen. Sie verhindern, dass weitere Anstrengung (Konkurrieren, Kämpfen) die Situation nur noch mehr verschlechtert und erleichtern so den Ausstieg aus erschöpfenden Endlosschleifen. Diesbezüglich ähneln sie körperlichen Symptomen wie Husten, Erbrechen, Durchfall, Schmerz oder Fieber. Letztere haben in aller Regel eine sinnvolle Aufgabe. Deshalb gilt möglicherweise auch für „subklinische Depressionen“: Während man Defekte „beheben“ sollte, kann es schädlich sein, normale körperliche Abwehrfunktionen zu unterbinden.

Depressive Pausen nutzen

    Misslingt es dem Betroffenen in der durch die Depression (biologisch?) angeordneten Pause, die erforderlichen Anpassungen bzw. Veränderungen in seinem Denken, Fühlen oder Verhalten vorzunehmen, droht eine „depressive Störung“ als Dauerzustand. Ein solcher Prozess erinnert an die Chronifizierung von Schmerzen, wo ebenfalls ein biologisch ursprünglich sinnvolles Geschehen (akuter Schmerz als Warnsignal) irgendwann seine ursprüngliche Funktion verliert, sich verselbstständigt und selbst zu einem Problem wird. Möglicherweise verlaufen weitaus mehr körperliche Prozesse nach diesem Muster, als uns bislang bewusst ist (z.B. Formen der dilatativen Kardiomyopathie, bei denen die Herzerweiterung auch nur bis zu einer bestimmten Grenze eine sinnvolle Anpassung darstellt).

   Leider reicht Pausieren allein oft nicht aus, um Depressionen abklingen zu lassen. Auch lassen sich nicht bei allen Depressionen „Anpassungsprobleme“ eindeutig identifizieren.

Fazit für die Praxis: Mit dem Begriff „subklinische Depression“ sollte zurückhaltend umgegangen werden, da er einen möglicherweise gesunden Prozess potentiell pathologisiert. Depressive Symptome können dem Behandler signalisieren, dass der Betroffene mit schwierigen Veränderungen befasst ist und dass er dafür eine vorübergehende (Anpassungs)Pause benötigt. Unterstützung bieten „Anpassungshilfen“, die den „Bedrückten“ entlasten und es ihm erleichtern, eine neue Balance mit seiner Umwelt herzustellen. Haben sich depressive Symptome jedoch einmal als „Störung“ verselbstständigt, fehlt ihnen jeglicher Sinn. Um ein solches Problem zu lösen, das sich oft selbst am Leben erhält, bedarf es besonderer Strategien. Zu ihnen können Antidepressiva gehören, die möglicherweise im Nervensystem eingeschliffene pathologische Erregungsschleifen wieder lockern. Prophylaktisch gilt es zu verhindern, dass die „Umschlaggrenze“ (von normalen Anpassungsbestrebungen zur anhaltenden depressiven Störung) erreicht und überschritten wird. Mögliche Hilfen sind der Erwerb von Flexibilität (Fähigkeit, Alternativen zu entwickeln) bzw. das Erlernen von Copingstrategien/sozialer Kompetenz, Entlastungen durch andere und die Verringerung von Faktoren, die das Erreichen der Umschlaggrenze beschleunigen (z.B. berufliche Überlastung, depressiogene Medikamente).

Modifiziert nach: S. B. Patten: Depressive symptoms and disorders, levels of functioning and psychosocial stress: an integrative hypothesis. Medical Hypothesis 1999 (53) 210-216; R. Nesse: Is depression an adaptation? Arch. Gen. Psychiatry 2000 (57) 14-20