Großbritannien. Moderne evolutionsbezogene Betrachtungsweisen gehen davon
aus, dass viele Depressionen zwar innere Kampf- und Fluchtmechanismen
aktivieren, diese dann aber nicht zu Ende führen. Statt zu kämpfen
unterdrücken die Betroffenen ihren Ärger, statt zu fliehen, verharren sie
gleichsam in der Falle. Die mit dem Verharren und Erstarren verbundene
Hilf- und Hoffnungslosigkeit erzeugt massiven chronischen Stress, der
seinerseits die Stimmung weiter verschlechtert. Eine Studie von P. Gilbert
und Mitarbeitern an 50 depressiven Patienten veranschaulicht, in welch
großem Ausmaß die beschriebenen Phänomene eine Rolle zu spielen scheinen.
So berichteten 88
Prozent der Befragten über das Bedürfnis, einigen Lebensproblemen zu
entfliehen. Dennoch sahen sich viele dazu letztlich außerstande. 38,7
Prozent räumten ein, dass sie schon vor der Depression glaubten „in der
Falle zu stecken“. Zwar machten sich viele Gedanken und Phantasien über
mögliche Auswege, zu konkreten Planungen oder Schritten kam es jedoch
selten. An Gründen für das Verharren in der ausweglosen Situation waren
die Patienten nicht verlegen. An ihrer Spitze standen die Sorge „Was
werden andere von mir denken?“ und Schuldgefühle gegenüber Abhängigen, die
man verlassen müsste.
Immerhin 82 Prozent
der Befragten räumten ein, dass sie Ärger unterdrücken und damit in 56
Prozent der Fälle schon vor der Depression begonnen hatten. Die häufigsten
Gründe für dieses Verhalten waren die Sorgen, beim Zeigen von Ärger
-
von geliebten Bezugspersonen
abgelehnt zu werden,
-
die Kontrolle zu verlieren,
-
keine Unterstützung mehr zu
erhalten
-
andere zu verletzen oder
wichtige Beziehungen zu gefährden,
-
nicht mehr begehrens- und
liebenswert zu sein.
Je mehr Hindernisse es
gab, die einem Verlassen der Situation entgegenstanden, und je weniger
sich die Patienten trauten, Ärger zu äußern, um so depressiver waren sie.
Die Ursachen für die persönliche Misere wurden fast ausschließlich in
äußeren Umständen oder bei anderen Menschen gesehen und extrem selten in
der eigenen Person gesucht.
Die Autoren regen an,
Ausweglosigkeit und Ärger-Management in der Behandlung Depressiver zu
thematisieren und gemeinsam mit den Patienten „Wege aus der inneren Falle“
zu erarbeiten (z. B. kompetenterer Umgang mit sozialen Problemen, Verzicht
auf Kontakte zu problematischen Personen, mehr Selbstsicherheit und
optimalerer Umgang mit Emotionen) . Dabei ist mit Hindernissen zu rechnen.
Zu ihnen gehört die Tendenz depressiver Menschen, an ungünstigen Umständen
festzuhalten, weil sie in diese bereits so viel investiert haben, dass
eine Abkehr kaum noch möglich ist. Sollte es nicht gelingen, Depressiven
den Weg aus der Sackgasse zu ebnen, droht die Gefahr, dass sich die
Betroffenen das Leben nehmen, weil sie keine andere Fluchtmöglichkeit mehr
sehen.
P.
Gilbert u. a.: Life events, entrapments and arrested anger in depression.
Journal of Affective Disorders 2004 (79) 149-160 |