Was versteht man unter
Höhenangst?
Von „Höhenangst“ spricht
man, wenn Menschen schon auf das Erleben oder mitunter allein schon auf
die Vorstellung relativ geringer Höhenunterschiede mit starker Angst, ja
Panik reagieren. Wissenschaftlich gesehen rechnet man die „Höhenangst“
zu den „spezifischen Phobien“, so dass alternativ auch die Rede von
„Höhenphobie“ bzw. „Akrophobie“ ist. Allen Phobien gemeinsam ist eine
unverhältnismäßig starke Furcht vor ganz bestimmten Objekten oder
Situationen. Fast jeder Mensch hat ein oder zwei leichte Phobien (ein
verbreitetes Beispiel ist die Schüchternheit). In aller Regel
beeinträchtigen diese aber nicht die Lebensführung. So wird es auch den
meisten Menschen etwas schummrig, wenn Sie von einem Fernsehturm
herunterblicken. Dennoch gelingt es Ihnen immer wieder, hohe Objekte zu
besteigen und von dort zumindest einen kurzen Blick nach unten zu
werfen. Ein gesunder Respekt vor Höhe bzw. Tiefe scheint uns angeboren
zu sein. So zeigen Untersuchungen, dass Kleinkinder auch dann vor
„Abgründen“ zurückschrecken, wenn sie noch keinerlei schlechte
Erfahrungen mit Höhe oder Tiefe gemacht haben (sog. Klippenphänomen).
Von einer „Höhenphobie“ spricht man deshalb nur dann, wenn die Angst vor
Höhe bzw. Tiefe ein außergewöhnliches Maß erreicht hat und sie den
Betreffenden deutlich in seiner Lebensführung einschränkt. Das ist etwa
der Fall, wenn jemand aus Angst davor zurückscheut, eine nur 2 m hohe
Leiter zu besteigen, ihm bereits übel wird, wenn er aus dem dritten
Stock eines Hauses hinunterblicken soll, er sich in höheren Etagen eines
Gebäudes nur noch mit dem Rücken zum Fenster aufhalten kann und sein
berufliches Fortkommen daran scheitert, dass er das Flugzeug nicht
benutzen oder selbst mit dem Auto größere Brücken nicht mehr überqueren
kann. Leider stoßen Menschen mit Höhenphobie oft auf Unverständnis oder
mitleidiges Lächeln ihrer Umwelt.
Da unter Höhenangst leidende Personen
vielen gefährlich wirkenden Situationen relativ gut aus dem Weg gehen
können (Fernsehturm, Hochhaus, Sprungturm, Berggipfel, Schluchten,
Seilbahn, Gondel, Balkone, Überhänge, Klettergärten), kommen sie im
Leben einigermaßen gut zurecht und suchen deswegen auch eher selten
fachliche Hilfe auf. Mehr oder weniger gut gelingt es ihnen, ihre
gesamte Lebensgestaltung von vornherein auch auf die Höhenangst
abzustimmen: So wird niemand Dachdecker, Hochseilartist,
Fensterreiniger, Maler, Gerüstbauer, Kranführer, Bergführer,
Fallschirmspringer oder Pilot, der schon als Kind unter Höhenangst litt.
Von der Höhenphobie zu unterscheiden ist der sog. Höhenschwindel, der
bislang immer noch relativ wenig aufgeklärt zu sein scheint. Offenbar
ist er eine ganz normale Reaktion auf widersprüchliche Signale unserer
Sinnesorgane. Zu diesen widersprüchlichen Signalen kommt es, weil unsere
Augen sehr weit entfernte Objekte nur schwer fixieren können und dies
zur Folge hat, dass das natürliche Schwanken unseres Kopfes nicht mehr
durch ein „festes Bild“ ausgeglichen werden kann und wir uns daher
schwindelig fühlen (was mit dem Schließen der Augen oder dem Abwenden
des Blickes in aller Regel aufhört. Auch kann man sich meist damit
behelfen, dass man dafür sorgt, dass am Blickrand des Auges (an der
„Peripherie“) feste und möglichst kontrastreiche „Haltepunkte“
erscheinen (wie etwa das Geländer, ein Brückenpfeiler oder ein Teil des
Felsens auf dem man steht). Nicht selten (keineswegs immer) gelingt es,
durch Üben „schwindelfrei“ zu werden. Höhenschwindel stellt sich meist
nicht sofort ein, sondern erst nach einigen Sekunden (sobald es
ausreichend lang zu den erwähnten Fixationsproblemen gekommen ist).
Wie macht sich Höhenangst
körperlich bemerkbar?
Wer unter massiver
Höhenangst leidet, für den reicht oft schon die Vorstellung von einer
Situation in der Höhe aus, um Unwohlsein, insbesondere Schwindelgefühle
und Übelkeit auszulösen. In der Situation selbst kann Panik entstehen
verbunden mit Herzrasen, „weichen Knien“, Schwitzen, Engegefühl in der
Brust, Atemnot und der Angst bewusstlos zu werden und abzustürzen. Das
Ganze kann sich bis zur Todesangst steigern. Manche Menschen haben sogar
die Phantasie, sie könnten die Kontrolle über sich selbst verlieren und
sich bewusst in die Tiefe stürzen.
Wie entsteht Höhenangst?
Offenbar haben wir
Menschen vor allem zu solchen Phobien eine gewisse Veranlagung, die sich
auf Gegebenheiten der Natur beziehen (wie Tiere, Gewitter, Dunkelheit,
Blut, Höhe und
Tiefe). Denn im Hinblick
auf mitunter weitaus gefährlichere Situationen oder Objekte wie
hochprozentigen Alkohol, Zigaretten, ungeschützten Sex oder schnelle
Fahrzeuge entwickeln wir so gut wie nie Phobien. Dieser interessante
Unterschied verdeutlicht zugleich, dass die jeweilige Furcht weitaus
mehr mit der inneren Angstbereitschaft und den eigenen Möglichkeiten von
Angstbewältigung zu tun hat als mit den ja meist nur scheinbar
existierenden äußeren Gefahren. Neben der Veranlagung spielen häufig
auch Lernvorgänge für den Erwerb einer Höhenphobie eine wichtige Rolle:
Wer schon als Kleinkind spürte, wie ängstlich die eigene Mutter vor
jedem Balkongeländer zurückschreckte oder ihr Kind immer fester
klammerte, wenn sich dieses einer Brüstung näherte, übernimmt in der
Regel automatisch auch ein solches ängstliches Verhalten. Der bereits
erwähnte Höhenschwindel kann ebenfalls eine Höhenphobie zur Folge haben.
Das damit verbundene Schwanken löst in solchen Fällen – insbesondere
wenn man sich hineinsteigert – zunehmende Angst aus, die erst nachlässt,
wenn man sich wieder sicher fühlt. Wer irrtümlich die erlebte Angst der
Höhe zuschreibt (also den äußeren Umständen) und dadurch künftig von
vornherein dem Thema Höhe mit Angst begegnet, legt damit oft den
Grundstein für eine dauerhafte Höhenphobie. Eine solche Entwicklung kann
auch dann einsetzen, wenn man aus anderen körperlichen Gründen in der
Höhe schwankt. Mögliche Beispiele sind Erkrankungen des
Gleichgewichtsorgans, Kreislaufstörungen, Sauerstoffmangel,
„Unterzuckerung“, Empfindlichkeitsstörungen der Fußsohlen,
Muskelschwächen, eine körperliche Erschöpfung oder eine
Gangunsicherheit. Auch wenn man auf diese Weise Schwanken gerät und
dadurch Angst verspürt, wobei man das Warnsignal Angst nicht allein auf
die körperlichen Probleme, sondern vor allem auch auf den Aufenthalt in
der Höhe zurückführt, „erlernt“ man Höhenangst“. Später reicht dann
allein schon die Vorstellung oder Konfrontation mit einem
Höhenunterschied aus, um sofort starke Angst hervorzurufen. Selbst wenn
man sich beim Erklimmen großer Höhen lediglich körperlich angestrengt
hat, also schwitzt und sein Herz klopfen hört, und dann gleich in die
Tiefe blickt, kann das Herzklopfen als Angstsignal fehlinterpretiert
werden. Mitunter tragen auch traumatische Erfahrungen zum Entstehen
einer Höhenphobie bei. Wer beispielsweise auf einer hohen Autobahnbrücke
einen Unfall erlitt, dabei mit dem Auto das Brückengeländer durchbrach
und lange Zeit halb über dem Abgrund hing, wird vielleicht nicht nur
eine Brückenphobie, sondern auch eine Höhenphobie entwickeln. Ähnliches
mag geschehen, wenn jemand bei stürmischen Bedingungen mehrere Stunden
in einer steckengebliebenen Gondel eingesperrt ist. Allerdings scheinen
durch traumatische Erfahrungen bedingte Höhenängste eher selten zu sein,
wie Patientenbefragungen andeuten.
Welche Therapieformen werden heutzutage bei Höhenangst angewendet?
Die Höhenphobie lässt
sich erfreulich gut behandeln! Die bekannteste und mit Erfolg am
häufigsten eingesetzte Behandlungsform ist die „Konfrontations- bzw.
Expositionsbehandlung“, die von Verhaltenstherapeuten angeboten wird.
Sie nutzt das Prinzip, dass unser Gehirn durch Erfahrung hinzulernt: Wer
sich also angstbesetzten Situationen in der Höhe aussetzt, wird – wenn
er es lange genug aushält – sich daran gewöhnen und „lernen“, dass Höhe
nicht zwangsläufig gefährlich ist. Entscheidend ist, dass man sich
dieser Situation ausreichend lang und oft aussetzt und zwischenzeitlich
nicht mehr den Kontakt zur Höhe meidet. Wer die Angst lange genug
aushält, wird erleben, dass diese sich wider Erwarten nicht ins
Unermessliche steigert, sondern nach einiger Zeit abflacht. Der wohl
bekanntest „Patient“ mit Höhenangst, der sich auf diese Weise selbst
kurierte, war Johann Wolfgang von Goethe, der offenbar im Anschluss an
eine körperliche Erkrankung Höhenangst entwickelte. Um sich davon zu
heilen, bestieg er den damals höchsten Kirchturm der Welt (das
Straßburger Münster). Dies wiederholte er offenbar mehrfach in kürzeren
Abständen.
Die Konfrontation kann
entweder langsam steigernd erfolgen oder aber – wie im Falle Goethes –
sofort durch Konfrontation mit sehr starken Reizen beginnen (wie Turm-
oder Bergbesteigungen, Aufenthalte auf Balkonen, Aussichtsplattformen,
Klettergärten, Fahrten in Glasaufzügen). Meist ist es hilfreich, diese
Exposition in Begleitung eines erfahrenen Therapeuten vorzunehmen.
Dieser ermöglicht in mehrfacher Hinsicht ein „Lernen am Modell“: Zum
einen führt er selbst vor, wie man problemlos die anfänglich noch
beunruhigende Höhendifferenz überwindet, zum anderen kann man seine
hilfreichen Kommentare und Ermutigungen übernehmen und so geeignete
Formen der Selbstregulation erlernen. Wer direkt alleine übt, läuft
Gefahr, sich dabei mit ungünstigeren Motivationsmitteln zu behelfen
(„Sei nicht schon wieder ein Versager!“ „Wenn du das nicht schaffst,
bist du eine Niete!“). Während der alleine Übende ein Abbrechen auf
halber Strecke vielleicht sofort als „erneutes Versagen“ werten würde,
würde dies ein begleitender Therapeut vermutlich eher als „immerhin
schon halb geschaffte Strecke“ würdigen.
Dank der modernen
Technik kann man heute bereits in virtuellen Umgebungen üben, indem man
sich beispielsweise vor einem großen Bildschirm oder mit Hilfe einer
Datenbrille bewegten Bildern aussetzt, auf denen die gefürchteten
Situationen gezeigt werden. In unserem Gehirn gibt es offenbar
sogenannte Spiegelnervenzellen, die sowohl aktiv werden, wenn wir selbst
etwas tun oder wenn wir nur beobachten, wenn andere Personen das Gleiche
tun. Diesen Zellen verdanken wir es wahrscheinlich, dass wir durch
„mentales Training“ lernen und unser künftiges Verhalten allein dadurch
schon verbessern können. Offenbar lässt sich die virtuell gemachte „Bewältigungserfahrung“
(bzw. die Gewöhnung an den Reiz) auch auf das reale Leben übertragen.
„Virtuelles Training“ hat wirtschaftliche und praktische Vorteile, weil
Flugreisen und Bergtouren meist aufwändig und teuer sind und der nächste
Fernsehturm auch nicht immer vor der Haustür steht. Trotzdem sollte man
zusätzlich immer auch die „echte Konfrontation“ anstreben, da letztlich
nur diese die Gewissheit vermittelt, künftig kaum oder nur noch wenig
Höhenangst zu haben. Diese Gewissheit wird umso stabiler sein, je
häufiger man sich entsprechende Erfahrungen gegönnt hat und je häufiger
man auch unter variierenden Bedingungen (unterschiedliche Berge,
unterschiedliche Hochhäuser usw.) geübt hat. Anfänglich sollten zwischen
den Übungseinheiten nur kurze Zeiträume liegen (Vorschlag: zwei
Behandlungen pro Woche), damit sich zwischenzeitlich nicht wieder
Vermeidungsverhalten einschleichen kann. Offenbar lohnt es sich mitunter
auch, den Behandlungserfolg nach einigen Monaten durch eine
abschließende Behandlung „aufzufrischen“ bzw. zu stabilisieren. Eine
erfolgreiche Phobiebehandlung stärkt in aller Regel das
Selbstbewusstsein! Für die Einschätzung der Behandlungsdauer und der
Methodenwahl wichtig ist immer auch die Frage, ob die Höhenphobie die
einzige Angst ist oder nur eine Angst unter mehreren.
Jede Behandlung der
Höhenphobie sollte mit einer genauen Aufklärung über die Zusammenhänge
beginnen (so wie hier geschildert), weil bereits ein besseres
Verständnis des Problems und seiner Lösungsmöglichkeiten Angst
verringern kann. So kann mitunter schon die Beratung dazu beitragen,
sich künftig weniger durch katastrophisierende Gedanken („Das ist
lebensgefährlich!“ „Ich werde abstürzen.“ „Ich könnte außer Kontrolle
geraten!“) in die Höhenphobie zu steigern. Man erlernt dazu den
„Gedankenstopp“ oder weiß, wie man alternativ günstigere Gedanken
aktiviert (sog. kognitive Verhaltenstherapie).
Fast immer hat es sich
auch bewährt, dem Patienten zusätzlich Methoden der „Selbstregulation“
zu vermitteln, mit deren Hilfe er sich in entspannte Zustände versetzen
kann (Entspannungstraining, Atemtraining, Abrufen ressourcevoller
Zustände). Diese kann er sich dann bei der Konfrontation mit
Höhenunterschieden zugänglich machen und damit den bedrohlichen
Symptomen der Höhenangst entgegenwirken. |