Angst auch bei Kindern als zum Leben gehörig
betrachten
Sie erweisen ihrem Kind
keinen Gefallen, wenn sie ihm Angst um jeden Preis ersparen wollen (was
kaum möglich ist!). Angst ist ein wichtiges Signal. Angstfrei
aufgewachsene Kinder sind deshalb nicht unbedingt lebenstüchtiger.
Kinder haben meist mehr davon, wenn sie erleben, dass Ängste zu
verkraften sind und wie man mit ihnen umgehen kann. Die dazu notwendigen
Erfahrungen fallen leichter, wenn sich Kinder in ihrer Familie geborgen
und gehalten fühlen und so Vertrauen in die Welt entwickeln können.
Angstfreie („unerschrockene“) Kinder haben im Leben oft besondere
Probleme, da sie Gefahren meist schlechter einschätzen und Grenzen
schlechter einhalten können.
Hinter auffälligem Verhalten die Angst
erkennen
Schon Erwachsenen fällt
es oft schwer, Ängste als solche zu erkennen. Viele lassen sich wegen
Herzrasen, Schweißausbrüchen oder Muskelverspannungen behandeln,
obwohl die eigentliche Ursache „Angst“ lautet. Ängste von Kindern
zu identifizieren, ist keineswegs leichter. So können folgende
Verhaltensweisen mehr oder weniger stark Angst ausdrücken: Ausweichen
und Vermeiden von Situationen, Ablehnung, tyrannisches und forderndes
Verhalten, Zwangshandlungen und Zwangsgedanken, Ein- und Durchschlafstörungen,
Anklammern und Protest bei Trennungen, körperliche Beschwerden (wie
Bauchschmerzen, Herzstiche, Atemnot), Bettnässen und Stottern.
„Reize“ dosieren
Angst und Erregung
scheinen eng miteinander verbunden zu sein. Zuviel (äußerliche oder
innerliche) Erregung kann Angst auslösen. Während Säuglinge bis zur
zehnten Lebenswoche über eine Art „passiven Reizschutz“ zu verfügen
scheinen, müssen sie anschließend lernen, das für sie gesunde Maß an
Reizen selbst zu beeinflussen („aktiver Reizschutz“). Die
sogenannten Dreimonatskoliken drücken möglicherweise nichts anderes
aus als die Schwierigkeit des Säuglings, mit Reizen aus seinem Körperinneren
zurecht zu kommen. Überreizungen finden häufig auch abends statt, wenn
berufstätige Eltern ihrem Kind noch einmal ihre ganze Liebe zeigen
wollen. Sie brauchen sich dann nicht zu wundern, wenn das Kind nicht zu
Bett gehen will und kaum einschlafen kann. Fördern Sie alle Bemühungen
Ihres Kindes, Reizangebote auf ein gesundes Maß zu regulieren.
Eigene Ängste nicht weitergeben,
sondern selbst bewältigen
Eltern sind immer ein
Modell für ihre Kinder, an dem diese nicht nur Verhalten, sondern auch
den Umgang mit Gefühlen erlernen. Bereits Säuglinge spüren zwar schon
Gefühle. Wie sie mit Emotionen umgehen können bzw. wie diese
einzuordnen sind, finden sie jedoch erst heraus, indem sie bei ihren
Bezugspersonen überprüfen, wie diese auf die Situation reagieren. Gefühle
werden so „geeicht“. Wenn sich Kinder unsicher fühlen und bei ihrer
wichtigsten Bezugsperson rückversichern, werden sie bevorzugt deren
vorherrschende Gefühle und die damit zusammenhängenden
Verhaltensweisen übernehmen. Ängstlich vermeidende Mütter haben daher
vermehrt auch ängstlich vermeidende Kinder. Deshalb nutzt es wenig,
Kindern „Ängste“ nehmen zu wollen, wenn deren wichtigste
Bezugspersonen diese weiter modellhaft vorleben. Es ist fast eine
Binsenweisheit, dass Kinder die Gefühlslage ihrer Eltern widerspiegeln.
Überprüfen Sie daher immer, ob Sie nicht selbst unter Ängsten leiden,
wenn Sie entsprechendes bei Ihrem Kind vermuten. Gönnen Sie sich
gegebenenfalls selbst fachliche Hilfe.
Durch „Lust an Neuem“ der
„Fremdenangst“ vorbeugen
„Fremdeln“ ist
kulturabhängig und kommt in manchen Kulturen gar nicht vor. Dass
„Fremdeln“ („Fremdenangst“) in Deutschland keine Seltenheit ist,
hängt vermutlich auch damit zusammen, dass Kinder hier oft in engen
Einzelbeziehungen aufwachsen. Vielen fehlt dann die Erfahrung, sich auf
mehrere Personen einzulassen. „Neues“ kann bei Menschen gleichermaßen
Angst und Lust auslösen. In welche Richtung jemand mehr tendiert, hängt
oft vom Vorbild der Eltern ab. Wenn diese vor Neuem zurückscheuen (sei
es ein überraschender Besuch, ein neuer Spazierweg, eine andere Seife),
dann werden auch ihre Kinder eine solche Grundhaltung übernehmen.
„Fremdenangst“ lässt sich daher auch als „gebremste Lust an
Neuem“ interpretieren. „Fremdenangst“ können Sie vorbeugen, indem
Sie Ihr Kind schon im Säuglingsalter mit ein bis drei anderen Personen
bekannt machen und von diesen vertrauensvoll mitversorgen lassen. Bieten
Sie Ihrem Kind immer Verbindungsglieder zwischen Fremdem und Vertrautem.
Verhindern Sie, dass neue Eindrücke Ihr Kind überfluten. Führen Sie
es lieber langsam, stetig und über längere Zeit an Fremdes heran.
Lassen Sie dem Kind sein eigenes Tempo. Fragen Sie sich, wie Sie selbst
mit Fremdem umgehen und wie eng und ausschließlich Sie Ihr Kind an sich
binden.
Gelassen mit „Dreimonatskoliken“
umgehen
Mit dem Begriff
„Dreimonatskolik“ beschreibt man umgangssprachlich das Verhalten
zwei bis drei Monate alter Säuglinge, die phasenweise 30 bis 60 Minuten
lang ununterbrochen schreien und ihre Eltern damit zur Verzweiflung
bringen können. In aller Regel hört dies nach dem 3. Lebensmonat von
selbst wieder auf, ohne dass irgendwelche Folgen bleiben. Die genaue
Ursache von „Dreimonatskoliken“ ist unbekannt. Vertrauen Sie darauf,
dass auch Ihr Säugling diese Phase heil überstehen kann. Streiten Sie
mit Ihrem Partner nicht darüber, was „gut“ oder „schlecht“ für
das schreiende Kind ist. Gut Gemeintes wirkt in diesem Fall
ausnahmsweise fast immer gut. Lassen Sie notfalls den Kinderarzt überprüfen,
ob sich hinter dem Schreien Krankheiten, Veranlagungen oder Pflegefehler
verbergen. Verbergen Sie nicht Ihren Ärger und Ihre Verzweiflung über
das Dauergebrüll. Sorgen Sie dafür, dass Sie selbst genügend Energien
tanken können, um den „3. Monat“ gut zu überstehen.
Trennungsängsten durch Betreuernetz
vorbeugen
Trennungen sind
unvermeidbare Lebenserfahrungen. Man kann sie keinem Kind ersparen.
Trennungen sind zudem ein wichtiger Schritt zu Selbstbestimmung und
Eigenständigkeit. Da Ihr Kind in der Regel zwischen dem Wunsch nach
inniger Bindung und dem Bedürfnis nach Selbstständigkeit hin und her
gerissen sein wird, werden Sie irgendwann selbst nicht mehr wissen, wie
Sie sich verhalten sollen (der innere Konflikt Ihres Kindes hat sich
dann auf Sie übertragen). Hinter heftigen Trennungsreaktionen eines
Kindes (Weinen, Schreien) stecken keineswegs nur Ängste, sie lassen
sich auch als „Protest“ deuten. Sie erleichtern es Ihrem Kind, sich
von Ihnen zu trennen, wenn sich dieses vorher an andere Personen gewöhnen
konnte und dabei erlebte, dass es von diesen genau so zuverlässig und
einfühlsam versorgt wird wie von Ihnen. Trennungen können dann unter
Umständen sogar als angenehm erlebt werden. Vermutlich fällt der
Umgang mit Trennungsangst leichter, wenn viele kleine Trennungen auf dem
Boden eines großen Betreuernetzes bewältigt werden. Öffnen Sie sich
daher zum Beispiel in die Nachbarschaft. Ihr Kind wird sich um so
leichter auf die Betreuung durch andere einlassen, je mehr Sie selbst
eigene Vorbehalte gegenüber Ihrer sozialen Umwelt überwinden. Gönnen
Sie auch den Ersatzbetreuern, dass Ihre Kinder diese ins Herz schließen.
Pflegen Sie gute Ersatzbeziehungen weiter, da sie sich für Ihr Kind
nicht von selbst erledigen.
Den Umgang mit Aggression erleichtern
Angst und Aggression
(„Gewalt“) sind Ausdruck bzw. Folge derselben inneren Erregung.
Entwicklungsgeschichtlich macht dies Sinn, weil Angst Energien
mobilisiert, die nicht nur Flucht-, sondern auch Angriffstendenzen
(Gegenwehr) fördern. Oft haben Menschen Angst vor anderen, weil sie an
sich selbst spüren, zu welcher Gewalt sie prinzipiell in der Lage sind.
Angst kann daher auch die eigenen aggressiven Wünsche und Tendenzen in
Schach halten. Vor diesem Hintergrund können Sie manche Ängste Ihrer
Kinder auch dadurch verringern, in dem sie ihnen zu einem angemessenen
Umgang mit Aggression verhelfen. Ihr eigenes Vorbild wird dabei am
meisten überzeugen. Helfen Sie Ihren Kindern, nicht in
Ohnmachtssituationen zu geraten, da diese besonders starke Ängste
hervorrufen. Vermitteln Sie lieber „Kompetenzen“, mit denen ihre
Kinder schwierige Situationen lösen können. Muten Sie sich selbst
„konstruktive Auseinandersetzungen“ mit Ihren Kindern zu, um Ihren
Kindern nützliche Erfahrungen zu vermitteln. Verzichten Sie dabei auf
„Androhungen“ und „Dramatisierungen“. Erkennen Sie Ihre eigenen
Ängste, räumen Sie diese offen ein und unterscheiden Sie diese
deutlich von den Ängsten der Kinder.
Scheidungskindern Ängste nehmen
Trennungen der Eltern
rufen bei Kindern die Angst hervor, dass sie nicht nur einen Elternteil,
sondern beide Eltern verlieren könnten. Häufig befürchten die Kinder,
dass sie selbst wesentlich zum Streit und zur Trennung der Eltern
beigetragen haben. Nicht selten werden die Kinder auch als „Bote“,
„Puffer“ oder „Spion“ missbraucht, wodurch sie in erhebliche
Konflikte geraten. Für die Kinder ist es schon schwer genug,
gleichzeitig „auf zwei Hochzeiten tanzen“ zu müssen und dabei das
Gefühl zu haben, immer den jeweils ausgeschlossenen Elternteil zu
verletzen. Oft verlieren die Kinder durch einen erforderlich werdenden
Umzug ihre vertraute soziale Umgebung (was umso bedeutsamer ist, je älter
Kinder sind). Einige der genannten Nöte und die mit ihnen verbundenen
Ängste verringern Sie, indem Sie den Kindern das Gefühl vermitteln,
dass die Trennung nicht mit ihnen zusammenhängt. Werten Sie Ihren
ehemaligen Partner nicht ab, denn Kinder identifizieren sich mit beiden
Elternteilen und wollen auf diese gleichermaßen stolz sein. Erläutern
Sie Ihren Kindern, dass sie zwar das „Elternpaar“ verloren haben.
Versichern Sie ihnen zugleich, dass ihnen Vater und Mutter trotz allem
erhalten bleiben. Ersparen Sie Ihren Kindern „Loyalitätskonflikte“
und bemühen Sie sich selbst, die Situation und die damit verbundenen
Gefühle zu bewältigen. Denn je eher Sie selbst mit der Trennung klar
kommen und Ihren Kindern wieder stabile Verhältnisse bieten, umso eher
können auch Ihre Kinder den erforderlichen Trauerprozess abschließen.
Diese Empfehlungen stützen
sich vor allem auf das Buch Kinderängste. Erkennen – verstehen –
helfen. Von Reinmar du Bois. C. H. Beck 1996 |