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Die globale Ernährungssituation scheint paradox: Auf der einen Seite
hungern jeden Tag Hunderte Millionen, auf der anderen Seite gibt es
genauso viele Fettleibige. Die Aufteilung der Betroffenen in ähnlich
große Gruppen "ist ein historisches Novum", betonen Josef Nussbaumer
und Andreas Exenberger in der jüngsten Ausgabe der "Aktuellen
Ernährungsmedizin" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2008). Man könne
bereits von einer ganzen Länder umfassenden Seuche sprechen. Seien
sowohl Über- als auch Untergewicht gesundheitsgefährdend, so sei
weltweit betrachtet Untergewichtigkeit "als Todesursache noch um ein
Vielfaches wichtiger".
Nussbaumer und
Exenberger kritisieren vor allem den menschenverachtenden Kreislauf
von Hunger, Tod und der darauf folgenden Stille. Wie ein "Perpetuum
mobile" wiederhole sich die Abfolge von Hungersnöten und
Unterernährung, die unweigerlich zum Tod führten. Mit dem Tod trete
auch die Stille ein. "Diese Stille kann sich auf vielfältigste Weise
zeigen, in der ‚Totenstille’, aber auch in jener Stille, in der über
die Ursachen dieses speziellen (Hunger)-Todes nicht geredet,
nachgeforscht, das Handeln nicht (ver-)ändert wird", betonen die
Autoren. Wäre der Hunger kein stiller Tod, gäbe es viel weniger Hunger
und viel weniger Tod, fassen sie zusammen.
Die
Wirtschaftshistoriker von der Universität Innsbruck sehen in der
Gleichgültigkeit und der Mentalität des Wegschauens das Grundübel für
den grausamen Hunger-Tod-Stille-Kreislauf. Um den Hunger wirksam zu
bekämpfen, müsste ein "Paradoxon" eintreten. "Es müsste nämlich laut
und immer wieder gegen die Stille des Verhungerns angeredet werden, so
lange, bis das Gewissen bei Entscheidungsträgern, zu denen in ihrer
Gesamtheit auch die Konsumentinnen und Konsumenten zählen, zu wirken
beginnt", fordern Nussbaumer und Exenberger.
Der "Stille Tod"
zeige sich in vielen Facetten. Das "Ereignis des Verhungerns" erfolge
an sich schon in der Einsamkeit. Jene, die es bezeugen und
dokumentieren könnten, stürben meist ebenfalls. Bei den großen
Hungerkatastrophen unter den Diktatoren Stalin, Hitler oder Mao war es
von offizieller Seite untersagt, überhaupt über die Katastrophe zu
sprechen. Eine Berichterstattung gab es nicht und so manche große
Hungersnot wurde erst nach Jahrzehnten aufgedeckt. Die beklemmendste
Form der Stille zeige sich jedoch im Hungerkannibalismus. "Einen
Mitmenschen aus purem Hunger aufzufressen, was fast immer still und
leise geschieht, ist wohl der schlimmste Ausdruck des Hungers", so
Nussbaumer und Exenberger.
Eine weitere
Facette sei die "Stille des unwissenden Konsumenten". Sie resultiere
aus dem bedenkenlosen Umgang mit Lebensmitteln. Denn statistisch
betrachtet sei Hunger kein Problem der Produktion von Nahrungsmitteln,
sondern ihrer Verteilung. So seien beispielsweise Mitte der 90er-Jahre
rund 37 Prozent der weltweiten Getreideernte in den Futtertrögen von
Rindern, Schafen, Schweinen oder Geflügel gelandet. Ein weiteres
Beispiel: Von den 20 Millionen Tonnen Mais, die in den USA 2006 mehr
als im Vorjahr produziert worden seien, wurden sechs Millionen für
zusätzliche Nahrungsmittel verwendet. Die verbleibenden vierzehn
Millionen Tonnen flossen in die Produktion von Ethanol, wobei das
Getreide, das man bräuchte, um einen 120 Liter-Autotank mit Ethanol zu
füllen, ausreichte, um einen Menschen ein Jahr lang zu ernähren.
J. Nussbaumer, A.
Exenberger:
Hunger und der Stille Tod. Sieben "Brosamen" zu einem vernachlässigten
Thema.
Aktuelle Ernährungsmedizin 2008; 33 (1):
S. 26-30