Hat der Mensch einen freien Willen oder hat er
keinen? Die Diskussion darüber sowohl unter Wissenschaftlern, vor allem
Hirnforschern und Philosophen, als auch in der Öffentlichkeit hat durch
Ergebnisse der Neurophysiologie neue Nahrung erhalten. Ausgangspunkt waren
Experimente des amerikanischen Physiologen Benjamin Libet, mit denen er das
Verhältnis von Gehirn und Geist in neuem Licht erschienen ließ, indem er
gezeigt hat, dass unbewusst bleibende Hirnprozesse objektiv, nämlich messbar
in seinem Versuchsaufbau, bewussten Willensentscheidungen vorausgehen. Demnach
sei das, was wir als Willensentscheidung subjektiv erleben, in Wahrheit nicht
frei, sondern determiniert durch voraus laufende Hirnprozesse. Diese und
weitere Ergebnisse wurden dahingehend interpretiert, dass die subjektiv
empfundene Freiheit des Wünschens, Planens und Wollens sowie des aktuellen
Willensaktes eine Illusion sei. Das Gefühl des freien Willensaktes entstehe,
nachdem limbische Strukturen und Funktionen im Gehirn bereits bewertet und
festgelegt haben, was zu tun ist.
Die Libetschen Konklusionen sind jedoch zu
relativieren. Sie werden in der deutschsprachigen Neurobiologie als Faktum
zitiert, wobei die im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts ausgerufene
"Dekade des Gehirns" offensichtlich ihre Wirkung getan und die Perspektive
grundlegend verschoben hat. Ein Beitrag in der Zeitschrift "Fortschritte der
Neurologie, Psychiatrie" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart) gewährt einen
Einblick, wie Wissenschaft "gemacht" wird. 32 Teilnehmer der Tagung der
Max-Planck-Gesellschaft im Jahre 1983, auf der Libet seine Thesen vortrug,
haben Kommentare zu seinem Vortrag abgegeben, die im Anschluss an seine
Publikation abgedruckt wurden. Ob es eine "Willensfreiheit" gibt, das heißt ob
die Menschen sie als eine soziale Realität betrachten, ist nicht primär eine
Frage naturwissenschaftlicher Erkenntnis über die Beziehung von Geist und
Gehirn. Unbestreitbar würde der naturwissenschaftliche Nachweis, dass
Willensfreiheit und die neurobiologische Erklärung der Hirnfunktionen
inkompatibel seien, Konsequenzen für die soziale Konstruktion der
Willensfreiheit nach sich ziehen.
Geist und Gehirn stellen unterschiedliche
Kategorien dar. Dualismus und Physikalismus sind jedoch unter der Bedingung
miteinander vereinbar, dass der Dualismus nicht gegen die beiden zentralen
Prinzipien des Physikalismus verstößt: die kausale Geschlossenheit und die
physische Determination. Ob Willensfreiheit mit Determinismus vereinbar ist,
hängt erstens davon ab, wie Determinismus aufgefasst wird und zweitens vom
Konzept der Willensfreiheit. Diese Spielräume nutzend lässt sich ein Begriff
von personaler Freiheit entwickeln, der mit neurobiologischen Erkenntnissen
vereinbar ist und dennoch Freiheit in einem zwar eingeschränkten, jedoch
substanziellen Sinn zu denken erlaubt.
Zum Verhältnis von Willensfreiheit und
Neurobiologie.
Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie 2006; 74; Nr. 4; S. 194-202.
Dr. Klaus Brücher, Dr. U. Gonther, AMEOS
Klinik Bremen. E-Mail: aerztl-dir.bremen@ameos. |