Wenn Menschen im mittleren bis höheren
Lebensalter, die sich bisher nichts haben zuschulden kommen lassen, ohne Grund
damit beginnen, kleinere Ladendiebstähle zu begehen oder anderweitiges
antisoziales Verhalten zu zeigen, dann scheint eine Prüfung angebracht, ob
möglicherweise eine beginnende Degeneration des Stirnhirns vorliegt. Da
Verhaltensänderungen bei diesen Erkrankungen der klinischen Diagnose manchmal
um Jahre vorausgehen, ist eine sorgfältige psychiatrische Abklärung
erforderlich. Die Degeneration des Stirnhirns (Frontallappens) stellt nach der
Alzheimer-Krankheit die häufigste Ursache für degenerative Demenzen dar. Durch
einen im Frontallappen beginnenden Untergang von Nervenzellen kommt es in
erster Linie zu einer Veränderung von Persönlichkeit und Verhalten. Ein
Aufsatz in der Zeitschrift "Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie" (Georg
Thieme Verlag, Stuttgart) analysiert die Häufigkeit des Auftretens von
Delikten bei Patienten mit diesem Demenz-Typ und vergleicht diese mit
Alzheimer-Patienten. Für ein entsprechendes Interview wurden 40 Angehörige von
Patienten mit Stirnhirn-Demenz (frontotemporaler Demenz) sowie 33 Angehörige
von Patienten mit Alzheimer-Erkrankung gewonnen.
Es zeigte sich, dass etwa die Hälfte der
Patienten mit Stirnhirn-Demenz Delikte begangen haben, dagegen nur ein Patient
aus der Alzheimer-Gruppe. In den meisten Fällen hatten die Patienten
regelmäßig, das heißt mehrmals monatlich bis wöchentlich, Gegenstände geringen
Wertes gestohlen. Auch körperliche Angriffe kamen vor. Meist ist das
Unrechtsbewusstsein durch die Erkrankung verloren gegangen. Gerade das
delinquente Verhalten bringt die Angehörigen häufig in peinliche Situationen,
die umso schlimmer sind, weil die Patienten aufgrund ihrer relativ
unbeeinträchtigten sprachlichen Kompetenz für den Laien nicht als
offensichtlich krank erkennbar sind. Sehr belastend ist es für die nächsten
Angehörigen, mit zu verfolgen, wie ein stets anständiger Mensch durch
dissoziales Verhalten auffällt, gleichzeitig aber keinerlei klärendes Gespräch
möglich ist. Daher ist für die Angehörigen die exakte Diagnose außerordentlich
wichtig und wirkt entlastend. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie haben
auch forensische Implikationen. Möglicherweise kann die Forschung mit
Patienten, die an einer degenerativen Hirnerkrankung leiden, weitere
Aufschlüsse über die Funktionsweise des Gehirns liefern. Wo liegen Ethik und
Moral verwurzelt? Gibt es anatomische Strukturen, welche die individuelle
Normenkontrolle repräsentieren?
Frontotemporale Demenz und delinquentes
Verhalten.
Fortschritte der Neurolologie, Psychiatrie 2006; 74; Nr. 4; S. 203-210.
Dr. Janine Diehl, Klinikum der Technische
Universität München. E-Mail: janine.diehl@lrz.tum.de |
Kommentar Dr. Mück: Weniger das
antisoziale Verhalten als vielmehr die Möglichkeit, solches Verhalten zu
hemmen, scheinen im Stirnhirn lokalisiert zu sein. Nur so wird verständlich,
warum Abbauerscheinungen am Stirnhirn mit vermehrtem antisozialen Verhalten
einhergehen.
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