Stuttgart – Ein Schnitt durch einen Muskel in der Stirn soll Patienten
angeblich von Migräne befreien. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie
(DGN) warnt jetzt vor diesem ‚wenig seriösen’ Verfahren. Die DGN sieht
darin in erster Linie finanzielle Interessen, nicht aber therapeutischen
Nutzen. Entscheidend sei es stattdessen, die angemessene medikamentöse
Therapie gegen die anfallartigen Kopfschmerzen zu finden.
Angeblich lindere der operative Eingriff bei nahezu 80 Prozent der
Patienten die Migräne dauerhaft. „Bei der angepriesenen Methode handelt
es sich jedoch eher um ein tragisches Beispiel der vorsätzlichen
Körperverletzung getarnt als vorbeugende Behandlung“, betont Professor
Hans-Christoph Diener von der Abteilung Neurologie am
Universitätsklinikum Duisburg-Essen. Die Kosten für die OP betragen etwa
1.500 Euro. Der Patient zahlt sie aus eigener Tasche. Ein Neurologe, der
eine ausführliche Anamnese erhebe, den Patienten neurologisch untersuche
und eine leitliniengerechte Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne
verordne, bekomme für seine Bemühungen 42 Euro, so der
Kopfschmerzexperte.
Etwa zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind von den verschiedenen
Formen einer Migräne betroffen „Die Grundlagenforschung zu Migräne hat
in den letzten Jahren immense Fortschritte gemacht“, sagt Professor
Diener in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "Aktuelle
Neurologie" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2006). Es gäbe keinen
Zweifel mehr, dass es sich um eine genetisch bedingte Erkrankung
handelt. Sie verändert die Freisetzung von Botenstoffen im Gehirn.
Darüber hinaus beeinflusst Migräne bestimmte schmerzverarbeitende
Strukturen im Gehirn und die Aktivität der Großhirnrinde.
Basierend auf diesen Erkenntnissen hat die Forschung in den vergangenen
15 Jahren neue Substanzen zur Behandlung der Attacken entwickelt. Auch
die Vorbeugung von Migräne mache Fortschritte. „Man fragt sich jedoch,
ob dieser gesamte Aufwand nicht völlig unnötig war“, bedauert Professor
Diener. Denn zurzeit werde das operative Verfahren zur „Heilung“ der
Migräne erneut beworben: Die Durchtrennung des Musculus corrugator
supercilii – ein Gesichtsmuskel oberhalb der Nasenwurzel. Der Muskel
selbst sei die vermeintliche Ursache der Schmerzen: Indem er sich
ständig anpasse, reize er den Nerv zugehörigen und führe zu verminderter
Durchblutung der umliegenden kleinen Gefäße.
Eine Erklärung für den scheinbaren Erfolg der Operation: Die meisten
Patientinnen sind im Alter zwischen 45 und 55 Jahren. Zu diesem
Zeitpunkt bessert sich eine Migräne häufig spontan oder verschwindet
sogar völlig. Darüber hinaus haben operative Eingriffe oft eine hohe
Scheinwirkung. Beispielsweise zeigt Scheinakupunktur bei Migräne
mitunter dieselben Erfolge wie echte chinesische Akupunktur: Unter
beiden Verfahren halbiert sich die Häufigkeit der Migräneattacken bei
der Hälfte der Patienten. „Diese Responderrate verdeutlicht den immensen
Placeboeffekt, wenn statt Medikamenten Nadeln verwendet werden“, sagt
Professor Diener. Ein weiteres Beispiel sind Studien zum Einsatz des
Nervengiftes Botulinumtoxin bei chronischen Spannungskopfschmerzen: In
Nacken- und Kopfmuskeln injiziert beträgt die Responderrate 70 Prozent.
Verwendet der Therapeut statt Botulinumtoxin jedoch Kochsalzlösung ist
der Therapieerfolg derselbe. Auch dies bestätigt, dass invasive
Verfahren einen deutlich höheren Placebo-Effekt haben, als medikamentöse
Therapien.
Quelle: Deutsche
Gesellschaft für Neurologie (DGN)
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