- Diagnosen
sind
menschliche Konstrukte, die kommen und gehen. Was heute noch
als normal gilt, kann morgen schon „krank“ sein und umgekehrt.
Ein gutes Beispiel ist die „Homosexualität“, die vor noch nicht
allzu langer Zeit offiziell als „Krankheit“ galt. Millionen von
homosexuellen Menschen wurden von einem Tag auf den anderen allein
dadurch „geheilt“ (!), dass man beschloss, „Homosexualität“
aus den offiziellen Krankheitsverzeichnissen („Diagnoseschlüsseln“)
zu streichen.
- Viele
„Diagnosen“ kommen nur deshalb zustande, weil die Gesellschaft
mit dem Verhalten des Betroffenen nicht zurechtkommt und ihn deshalb
als veränderungs- bzw. behandlungsbedürftig etikettiert. Als
Beispiel erwähne ich gerne die so genannten „Verhaltensgestörten“.
Dieses Wort suggeriert, dass die Betroffenen gestört sind. Tatsächlich
ist es aber in der Regel die Umwelt, die sich am Verhalten eines
einzelnen stört. Dem angeblich „Gestörten“ macht es dagegen
oft regelrecht Spaß, zu lärmen, „Unsinn“ zu machen oder sich
in sonstiger Weise auffällig zu benehmen. Durch das Etikett
„Verhaltensstörung“ wird nun das Problem, dass ein Mensch und
seine Umwelt nicht so gut zusammenpassen, einseitig dem einzelnen
zugeschrieben. Die Umwelt kann es sich bequem machen und braucht
sich nicht zu fragen, ob sich das „Problem“ nicht auch durch größere
Toleranz oder Änderungen der gesellschaftlichen Spielregeln und
Erwartungen lösen lassen könnte. Manche politischen Systeme
entsorgen auf diese Weise auch unliebsame „Dissidenten“.
- Viele
Diagnosen sind „Kategorien“: Nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip
fällt man darunter oder nicht. Diese Betrachtungsweise trifft
sicherlich manchmal zu (ein bisschen schwanger gibt es nicht). Der
allgemeinen Lebenserfahrung entspricht aber mehr die
Betrachtungsweise, dass sich Lebensprozesse auf einem breiten
Spektrum abspielen (so kann man etwas, mittelstark oder schwer
depressiv, müde oder ängstlich sein). Ab wann liegt also offiziell
eine „Depression“, „Schlafstörung“ oder
„Angstkrankheit“ vor? Ab wann gilt man als geheilt? Wie viel
Angst und Depression sind mit Gesundheit noch vereinbar? Wann ist
man wirklich „ganz gesund“?
- Diagnosen
hängen immer auch von dem ab, der sie stellt. Wer mit
Kieferschmerzen nacheinander zum HNO-Arzt, Neurologen, Orthopäden
oder Zahnarzt geht, wird unter Umständen vier unterschiedliche
Erstdiagnosen erhalten. Denn jeder Behandler wird Symptome bevorzugt
vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen einordnen.
-
Diagnosen können einschränken und
Möglichkeiten verhindern. Seitdem ich einmal miterleben musste, dass
einem Patienten der Abschluss einer Lebensversicherung verweigert
wurde, kläre ich meine Patienten besonders intensiv über Vor- und
Nachteile von Diagnosen auf und welche im Zweifel immer die
kleinstmögliche Diagnose.
Aus den genannten Gründen
ist es mir wichtig, mit meinen Patienten über ihre „Diagnosen“ zu
verhandeln. Dadurch möchte ich vermeiden, dass vor allem
„psychische“ Diagnosen als etwas Schicksalhaftes angesehen werden,
das ausschließlich mit ihnen selbst zu tun hat und das man nicht mehr
oder nur mit größter Mühe loswird. Diagnosen sind für mich im Grunde
vor allem dann wichtig, wenn eine „Behandlung“ gewünscht wird, die
von einer Versicherung bezahlt werden soll. Auch unter
wissenschaftlichen Gesichtspunkten und zum Zweck der „Qualitätskontrolle“
macht es Sinn, mit Hilfe von Diagnosen „Vergleichbarkeiten“ zu ermöglichen.
Nicht zuletzt haben Diagnosen auch etwas Beruhigendes: Ein unklares
Symptom erhält einen Namen, der mit meist einem Behandlungsschema verknüpft
ist. Dies verringert das Gefühl von Unsicherheit und weckt die
Erwartung, dass das weitere Geschehen berechenbar ist.
Grundsätzlich möchte ich auf jeden Fall vermeiden, dass
meine Patienten dauerhaft stigmatisiert werden. Die
offiziellen Diagnosen finden Sie z.B. unter :
www.icdsuche.de.
Lesen Sie auch den kritischen
Beitrag von Dr. Thomas Weniger "Krankheitskonstrukte: Zwischen
hilfreicher Diagnose und Stigma", den Sie hier als pdf-Datei aufrufen
können.
Letzte Bearbeitung: 11.07.2014 |