Ich blicke in den Spiegel und bin mir fremd.
Ich fixiere meine Augen und sehe zwei unendlich schwarze, grau umrandete
Pupillen, die mich mustern. Langsam gleitet der Blick über mein Gesicht.
Es ist mir so vertraut und doch so fremd. Es hat sich verändert. Die
Lippen sind schmaler geworden, als wollten sie untermalen, dass in den
letzten Jahren viel Verbissenheit meinen Gemütszustand dominierte. Die
Veränderungen sind so schleichend, dass mir selbst gar nicht so sehr
auffällt, wie sie meine äußere Erscheinung nachhaltig beeinflussen.
Was macht eigentlich meine Existenz aus? Wer
bin ich eigentlich? Den größten Teil des Lebens bewege ich mich durch Raum
und Zeit ohne mich selbst sehen zu können, habe dadurch kein ausgeprägtes
physisches Bewusstsein meiner alltäglichen körperlichen Wirkung. Und das
Stück Glas mit einer Rückwand, das nur Ausschnitte meiner äußeren
Erscheinung zurückwirft, sagt mir nichts, nichts, nichts. Das Wenige, was
ich ab und an im Spiegel betrachten oder anderweitig von mir erspähen
kann, reicht nicht aus, um ein wirklich „realistisches“ Bild von mir als
einem sich in Umwelt bewegendem Subjekt zu bekommen. Wie sehen die anderen
meine körperliche Erscheinung eigentlich, z.B. von hinten? Wie sehe ich
beim Gehen oder Joggen, wie beim Sitzen oder am Tresen stehend aus? Oder
wie sehe ich beim Fühlen aus, wenn ich traurig, verletzt, wütend,
glücklich, irritiert, selbstsicher, unsicher, betroffen, arrogant,
verliebt bin? Wie sehe ich aus, wenn ich „ich liebe dich“ sage, wie, wenn
ich einen Orgasmus habe?
Wie nur bin ich in dieser seltsamen Welt durch
die Augen der anderen verankert?
Den größten Teil meines Lebens bewege ich mich
durch den Kosmos ohne die Möglichkeit, mich selbst als handelndes Subjekt
direkt wahrnehmen zu können.....
.....und jetzt habe ich große Angst, dass da
vielleicht überhaupt nichts ist. Vielleicht bilde ich mir meine Existenz
nur ein, gibt es gar keine „reale“ Existenz hinter den Rollen, mit denen
ich mich in die Sinnstrukturen der mich umgebenden Umwelt einpasse.
Vielleicht bin ich nur durch die Rollen, die ich spiele, ohne feste
Verankerung in meinem ureigenen Sein.
.....und jetzt beunruhigt mich, dass die
anderen mich vielleicht nur innerhalb der Erwartungen erkennen, die sie
selbst an die mir zugedachten Rollen knüpfen. Meine körperliche Hülle als
Projektionsfläche für die mehr oder weniger vorhandenen Phantasien meiner
Mitmenschen. Ihre Erwartungen oder Wahrnehmungsmöglichkeiten formen mehr
oder weniger stimmige Phantome, machen aus mir hunderte von virtuellen
Kopien, die nichts mit mir zu tun haben. Ich bin damit hundertfach
virtuell und nicht im geringsten „wirklich“ vorhanden.
.....und dann wird mir ganz bang, wenn mich
die Ahnung heimsucht, dass ich noch nicht einmal diese Erwartungen der
anderen wirklich kenne, mein Verhalten also an wiederum eingebildeten
Phantomen meiner selbst ausrichte, die nichts, aber auch gar nichts, mit
meinem innersten Sein verbindet. Ich löse mich gleichwohl auf, in tausend
Fetzen, die sich in den Köpfen der anderen festsetzen und so tun, als
wären sie ich. Sind das die Fäden, an denen ich wie eine Puppe hänge?
Ständig auf der Lauer und jederzeit bereit, den Vorgaben dieser,
vielleicht beiderseits eingebildeten Plagiate zu folgen? Verliere ich mich
immer mehr in diesem unübersichtlichen Gewusel von virtuellen Phantomen
meiner selbst?
.....und fassungslos macht mich, dass es den
anderen wahrscheinlich genauso geht. Kann ich deshalb mit deren Signalen
immer weniger anfangen? Wird mir deshalb deren nebulöses Spiegelbild
meiner selbst von Tag zu Tag fremder?
Es ist doch fürchterlich, wie wir uns in
dieser Welt herumtasten. Keiner, oder nur wenige, kommen jemals dazu,
sich selbst zu sein und die ureigenen Bedürfnisse kennen zu lernen. Wir
tanzen alle wie auf Eiern umeinander herum, immer auf der Lauer, Sklaven
der vermeintlichen Erwartungen der anderen. Warum äußern wir nicht mehr,
was wir wirklich denken und fühlen? Oder denken und fühlen wir überhaupt
noch etwas wirklich „Eigenes“?
Ich glaube, ich werde langsam verrückt.
Vielleicht bin ich auch schon verrückt. Entspreche nicht mehr der Norm!
Passe nicht mehr in die gängigen Sinnstrukturen! Vorsicht, die Natur ist
da gnadenlos! Sinnloses wird verachtet, ausgestoßen, vernichtet! Was
keinen Sinn ergibt, ist gefährlich!
Mein erstarrtes Spiegelbild gerät plötzlich in
Bewegung und, als hätte es jemand auf das Glas geschrieben, taucht vor mir
die Frage auf: Wie konnte es nur soweit kommen?
Ich kann mich nicht allzu weit zurückerinnern.
Als kleiner Junge schon verlor ich irgendwie den Kontakt zu, ja zu was
eigentlich, zur Normalität? Irgendwie sind mir die Verhaltensweisen meiner
Eltern mit Sicherheit immer höchst suspekt erschienen. Ich konnte den
ganzen täglichen Irrsinn nicht mit meinem ausgeprägten Gefühl für Sinn und
Ordnung in Einklang bringen. Mit zunehmender Rationalisierung meiner
Umwelt bin ich in Tagträume geflüchtet.
Und dann?
...war ich der gute Sohn...
...war ich der gute Freund...
...war ich der gute Liebhaber...
...war ich der gute Ehemann...
...war ich der gute Arbeitnehmer...
...war ich der Erfolgreiche...
War ich viele Phantome...
...und wurde immer einsamer
...und ging mir selbst
...und den anderen
...verloren. |