Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie, Coaching, Mediation u. Prävention
Dr. Dr. med. Herbert Mück (51061 Köln)

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Phantome unseres Selbst
(Autor: Lothar Seckinger, www.seckinger-consulting.de)


Ich blicke in den Spiegel und bin mir fremd. Ich fixiere meine Augen und sehe zwei unendlich schwarze, grau umrandete Pupillen, die mich mustern. Langsam gleitet der Blick über mein Gesicht. Es ist mir so vertraut und doch so fremd. Es hat sich verändert. Die Lippen sind schmaler geworden, als wollten sie untermalen, dass in den letzten Jahren viel Verbissenheit meinen Gemütszustand dominierte. Die Veränderungen sind so schleichend, dass mir selbst gar nicht so sehr auffällt, wie sie meine äußere Erscheinung nachhaltig beeinflussen.

Was macht eigentlich meine Existenz aus? Wer bin ich eigentlich? Den größten Teil des Lebens bewege ich mich durch Raum und Zeit ohne mich selbst sehen zu können, habe dadurch kein ausgeprägtes physisches Bewusstsein meiner alltäglichen körperlichen Wirkung. Und das Stück Glas mit einer Rückwand, das nur Ausschnitte meiner äußeren Erscheinung zurückwirft, sagt mir nichts, nichts, nichts. Das Wenige, was ich ab und an im Spiegel betrachten oder anderweitig von mir erspähen kann, reicht nicht aus, um ein wirklich „realistisches“ Bild von mir als einem sich in Umwelt bewegendem Subjekt zu bekommen. Wie sehen die anderen meine körperliche Erscheinung eigentlich, z.B. von hinten? Wie sehe ich beim Gehen oder Joggen, wie beim Sitzen oder am Tresen stehend aus? Oder wie sehe ich beim Fühlen aus, wenn ich traurig, verletzt, wütend, glücklich, irritiert, selbstsicher, unsicher, betroffen, arrogant, verliebt bin? Wie sehe ich aus, wenn ich „ich liebe dich“ sage, wie, wenn ich einen Orgasmus habe?

Wie nur bin ich in dieser seltsamen Welt durch die Augen der anderen verankert?

Den größten Teil meines Lebens bewege ich mich durch den Kosmos ohne die Möglichkeit, mich selbst als handelndes Subjekt direkt wahrnehmen zu können.....

.....und jetzt habe ich große Angst, dass da vielleicht überhaupt nichts ist. Vielleicht bilde ich mir meine Existenz nur ein, gibt es gar keine „reale“ Existenz hinter den Rollen, mit denen ich mich in die Sinnstrukturen der mich umgebenden Umwelt einpasse. Vielleicht bin ich nur durch die Rollen, die ich spiele, ohne feste Verankerung in meinem ureigenen Sein.

.....und jetzt beunruhigt mich, dass die anderen mich vielleicht nur innerhalb der Erwartungen erkennen, die sie selbst an die mir zugedachten Rollen knüpfen. Meine körperliche Hülle als Projektionsfläche für die mehr oder weniger vorhandenen Phantasien meiner Mitmenschen. Ihre Erwartungen oder Wahrnehmungsmöglichkeiten formen mehr oder weniger stimmige Phantome, machen aus mir hunderte von virtuellen Kopien, die nichts mit mir zu tun haben. Ich bin damit hundertfach virtuell und nicht im geringsten „wirklich“ vorhanden.

.....und dann wird mir ganz bang, wenn mich die Ahnung heimsucht, dass ich noch nicht einmal diese Erwartungen der anderen wirklich kenne, mein Verhalten also an wiederum eingebildeten Phantomen meiner selbst ausrichte, die nichts, aber auch gar nichts, mit meinem innersten Sein verbindet. Ich löse mich gleichwohl auf, in tausend Fetzen, die sich in den Köpfen der anderen festsetzen und so tun, als wären sie ich. Sind das die Fäden, an denen ich wie eine Puppe hänge? Ständig auf der Lauer und jederzeit bereit, den Vorgaben dieser, vielleicht beiderseits eingebildeten Plagiate zu folgen? Verliere ich mich immer mehr in diesem unübersichtlichen Gewusel von virtuellen Phantomen meiner selbst?

.....und fassungslos macht mich, dass es den anderen wahrscheinlich genauso geht. Kann ich deshalb mit deren Signalen immer weniger anfangen? Wird mir deshalb deren nebulöses Spiegelbild meiner selbst von Tag zu Tag fremder?

Es ist doch fürchterlich, wie wir uns in dieser Welt herumtasten. Keiner, oder nur wenige,  kommen jemals dazu, sich selbst zu sein und die ureigenen Bedürfnisse kennen zu lernen. Wir tanzen alle wie auf Eiern umeinander herum, immer auf der Lauer, Sklaven der vermeintlichen Erwartungen der anderen. Warum äußern wir nicht mehr, was wir wirklich denken und fühlen? Oder denken und fühlen wir überhaupt noch etwas wirklich „Eigenes“?

Ich glaube, ich werde langsam verrückt. Vielleicht bin ich auch schon verrückt. Entspreche nicht mehr der Norm! Passe nicht mehr in die gängigen Sinnstrukturen! Vorsicht, die Natur ist da gnadenlos! Sinnloses wird verachtet, ausgestoßen, vernichtet! Was keinen Sinn ergibt, ist gefährlich!

Mein erstarrtes Spiegelbild gerät plötzlich in Bewegung und, als hätte es jemand auf das Glas geschrieben, taucht vor mir die Frage auf: Wie konnte es nur soweit kommen?

Ich kann mich nicht allzu weit zurückerinnern. Als kleiner Junge schon verlor ich irgendwie den Kontakt zu, ja zu was eigentlich, zur Normalität? Irgendwie sind mir die Verhaltensweisen meiner Eltern mit Sicherheit immer höchst suspekt erschienen. Ich konnte den ganzen täglichen Irrsinn nicht mit meinem ausgeprägten Gefühl für Sinn und Ordnung in Einklang bringen. Mit zunehmender Rationalisierung meiner Umwelt bin ich in Tagträume geflüchtet.

Und dann?

...war ich der gute Sohn...
...war ich der gute Freund...
...war ich der gute Liebhaber...
...war ich der gute Ehemann...
...war ich der gute Arbeitnehmer...
...war ich der Erfolgreiche...

War ich viele Phantome...
...und wurde immer einsamer
...und ging mir selbst
...und den anderen
...verloren.