Nichtbeachtung macht behindert
Um lernen bzw. Erfahrungen
speichern zu können, sind Spiegelnervenzellen auf „Spiegelung“ durch
andere Menschen angewiesen. So zeigen Eltern ihrem kleinen Kind, wie
sein eigenes Verhalten auf sie wirkt (etwa indem sie sein Lächeln mit
einem eigenen Lächeln beantworten). So lernt das Kind, Emotionen
wahrzunehmen, zu benennen, zu unterscheiden und zu regulieren.
Vorenthalten oder Entzug von Spiegelung wird von uns Menschen als
grausam erlebt (etwa wenn jemand bewusst nicht beachtet wird, was z. B.
beim „Mobbing“ häufig vorkommt). Für unsere Entwicklung spielt es also
eine große Rolle, welche Art von „Nervenfutter“ wir vor allem zu Beginn
unseres Lebens erhalten haben. Wer als Kind wenig gespiegelt wurde,
verankert in seinen Spiegelnervenzellen nur wenige oder sehr einseitige
Erfahrungen. Im späteren Leben werden diese Spiegelnervenzellen nur
selten oder unter einseitigen Bedingungen „anspringen“ bzw. kaum in
„Resonanz“ (= Wechselwirkung) zu den beobachteten Phänomenen oder
Personen treten. Solchen Menschen fällt es schwer, sich in andere
einzufühlen, weil ihre Spiegelnervenzellen auf keine entsprechenden
„kodierten Erfahrungen“ zurückgreifen können. Sie wirken dann unberührt,
kalt oder hilflos. Eine wichtige Aufgabe von Psychotherapie ist
es daher, dem Patienten durch einfühlsame Spiegelung noch fehlende
grundlegende zwischenmenschliche Erfahrungen zu vermitteln und so
die Reaktionsmöglichkeiten seiner Spiegelnervenzellen zu vergrößern.
Dabei ist es wichtig, dass sich der Therapeut spontan, wertschätzend und
authentisch verhält (Prinzipien der Gesprächstherapie nach Rogers).
Im Spiegel elterlichen
Verhaltens eigenes Befinden einschätzen lernen
Damit sich Handlungsabläufe bei Kindern mit Hilfe der Spiegelneurone im
Gehirn einprägen können, müssen sie von lebenden Vorbildern kommen
(Fernsehen funktioniert nicht, da es keine individuellen Interaktionen
ermöglicht!). Nur wenn Betreuer persönlich anwesend sind und das Spielen
immer wieder in Gang bringen, werden Kleinkinder zeitweise dazu
übergehen, das Spiel selbst zu organisieren. Ohne entsprechende
Anleitung wirken Kinder in ihrem Verhalten und ihrer Körpersprache oft
unentwickelt, meistens grob, ungeschickt oder gehemmt. Ein Kleinkind
orientiert sich bei der Einschätzung aktueller Situationen daran, wie
sie von der Bezugsperson beurteilt wird. Es übernimmt die Bewertungen
der Eltern sogar dort, wo es um die eigene Befindlichkeit geht. Bei
einem Sturz erkundigt es sich beispielsweise durch einen Blick zur
Mutter danach, ob ihm dieser Sturz sehr oder nur wenig weh getan hat.
Deren Antwort („Das tut doch nicht weh.“) liefert den
Spiegelnervenzellen die Regieanweisung dafür, wie sie künftig auf
ähnliche Ereignisse zu reagieren haben Für den permanenten Abgleich
seiner eigenen Erfahrungen mit denen anderer braucht das Kind präsente
Eltern. Spielerisch übt es laufend zwischenmenschliche Handlungsstile
ein.
Vorbeugende
Befindensprüfung
Es gibt nicht nur Spiegelnervenzellen, die beim Handeln
oder beim Beobachten von Handlungen aktiv werden bzw. in Resonanz
treten. Eine weitere Gruppe ist vor allem mit der Handlungsplanung
befasst. Eine dritte Gruppe wird aktiv, wenn es darum geht
herauszufinden, wie sich eine Handlung „anfühlt“. Dank
dieses Dreierverbandes ist unser Gehirn in der Lage, Handlungen nicht
nur zu planen, sondern auch vorab zu prüfen, wie sich der
Handlungsablauf im Falle seiner Umsetzung anfühlen würde. Ein
ungünstiges Ergebnis („Handlung führt zu einem schlechten Befinden“)
kann zu einem Verzicht auf die geplante Handlung führen. Die
Möglichkeit „hochzurechnen“, wie sich geplante Handlungen auf das
Befinden auswirken werden, fördert zugleich unsere Einfühlung in
andere. Denn das „emotionale Hochrechnungssystem“ wird nicht nur bei
eigenen Handlungen aktiv, sondern auch bei beobachteten Handlungen
anderer („emotionale Resonanz“). Die Fähigkeit, sich eine Vorstellung
vom Innenleben eines anderen Menschen zu machen, nennt man auch „Theory
of Mind (TOM)“. Offenbar sind Spiegelnervenzellen deren biologische
Grundlage.
Angst und Stress trüben den Spiegel
Bei
Angststörungen scheint das Hochrechnungssystem durchweg ungünstige
Ergebnisse zu errechnen. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass die
Signalrate von Spiegelnervenzellen unter Angst, Anspannung und Stress
stark abnimmt. Indem Verhaltenstherapie die Spiegelnervenzellen zu neuen
Erfahrungen regelrecht zwingt, verändert sich nicht nur deren
Reaktionsvielfalt, auch wächst die Datenlage für weitere Hochrechnungen
bzw. erweitert sich die Vielfalt alternativ verfügbarer
Verhaltensprogramme. „Entspannungsmethoden“ bereiten den Spiegelneuronen
optimalere „Arbeitsbedingungen“.
Spiegeln vermittelt
traditionelles Wissen
Spiegelnervenzellen werden aktiv, ohne dass wir es merken. Auch Reize
unterhalb der Bewusstseinschwelle (dargeboten in Bruchteilen von
Sekunden) lassen Spiegelzellen „anspringen“ (in Resonanz treten). Da ein
Großteil menschlichen Wissens durch Spiegelung weitergegeben wird
(Verhaltensregeln und damit verbundene emotionale Sanktionen, etwa in
Form von Gewissensbissen und Scham), dürften Spiegelnervenzellen an der
Gestaltung unseres Zusammenlebens wesentlich beteiligt sein. Was einmal
durch Beobachtung in unser Vorstellungsrepertoire Eingang gefunden hat,
ist künftig prinzipiell vorstellbar und aufgrund der damit gebahnten
Handlungsbereitschaft auch potenziell realisierbar. Angesichts des
heutigen medialen Überangebots (insbesondere in Form von Bildern, die
Gewaltakte zeigen) erscheint Psychohygiene (Enthaltsamkeit) dringend
geboten.

Hemmung befreit
Während
Spiegelsysteme bei Kleinkindern die starke Tendenz haben, Beobachtetes
sogleich nachzumachen, verfügt der Erwachsenen über hemmende
neurobiologische Systeme, die ihm Verhaltensalternativen eröffnen. Mit
ihrer Hilfe kann der Erwachsene Verhaltenstendenzen zunächst in Schwebe
halten und dabei Alternativen prüfen (insbesondere im Hinblick auf das
damit jeweils verbundene eigene Befinden). Nach ausreichender Klärung
kann er dann einer bestimmten Verhaltensvariante den Vorzug geben bzw.
auf Handeln komplett verzichten. Menschen mit „Impulskontrollstörungen“
sind dazu nicht in der Lage. Ihre Spiegelnervenzellen lösen unweigerlich
entsprechende Reaktionen aus.
Resonanz und geteilte Aufmerksamkeit machen glücklich und „binden“
Spiegelzellen zeigen
besonders starke Aktivität, wenn sich eigene und beobachtete (=
gespiegelte) Handlung entsprechen. Hier entsteht eine besonders starke
„Resonanz“ (Widerhall, Anklang), die im Fall positiver Spiegelungen
(gelungener „Zuwendung“) sogar „Glücksgefühle“ auslösen können (was auf
einer vermehrten Freisetzung körpereigener Botenstoffe, hier der „Opiode“,
zu beruhen scheint). Eigenes Erleben und von der Umwelt gespiegeltes
Verhalten scheinen dann identisch zu sein. Zugleich sind eigene und
fremde Aufmerksamkeit auf den gleichen Inhalt gerichtet („joint
attention“), so dass man sich mit dem anderen verbunden fühlt,
letztendlich also „Bindung“ entsteht. Vermutlich erlebt man sich in
einer solchen Situation auch als besonders „wirksam“. Spiegelzellen sind
somit auch wichtige „Kontaktorgane“, die abtasten und zu erfühlen
versuchen, was den anderen gerade bewegt. So lassen sie soziale
Verbundenheit erleben. Nicht zuletzt wird verständlich, warum Zuwendung
Schmerzen besser ertragen lässt.
Wie Mit-Leid
entsteht und vergeht
Da immer
die gleichen Spiegelnervenzellen anspringen, egal ob man selbst handelt
oder das Handeln eines anderen beobachtet, fragt sich, wie der
Organismus überhaupt erkennen kann, wer denn nun der eigentlich
Handelnde ist. Zugleich wird verständlich, wie „Mit-Leid“ im wahrsten
Sinne des Wortes entsteht. Wer sich in der Gegenwart eines nahe
stehenden leidenden Menschen schlecht fühlt, hat mit Hilfe von
Spiegelnervenzellen offenbar einen vergleichbaren Zustand in sich selbst
erzeugt. Interessanterweise zeichnen sich „Sympathische Menschen“ („Sym-pathie“
= Mitleid) nicht zuletzt durch ihre Fähigkeit des „Nachempfinden-Könnens“
aus. Manche („Helfertypen“) laufen allerdings Gefahr, sich im Einsatz
für andere „selbst zu verlieren“. Sie können offenbar nicht mehr
zwischen eigenem und fremdem Erleben unterscheiden. Sie erleben das Leid
der anderen genau wie eigenes, umgekehrt unterstellen sie anderen (meist
unbewusst) Gedanken und Gefühle, die vor allem sie selbst beherrschen.
Menschen
können nur dann empathisch sein, wenn die dazu erforderlichen Grundlagen
durch entsprechende zwischenmenschliche Erfahrungen ausreichend
„eingespielt“, also „gebahnt“ und damit funktionsfähig gemacht wurden.
Wo eine emotionale Resonanz fehlt, kann eine „Alexithymie“ oder ein
„Autismus“ vorliegen. Eine vorhandene Empathiefähigkeit kann durch
Extremerfahrungen von Gefühllosigkeit und Brutalität nachträglich
Schaden erleiden.
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